America Has Had Enough

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Bürger ohne Burger: Die US-Verbraucher ändern ihre Ernährung und stürzen Marken wie Coca-Cola und Kellogg’s in die Krise.

Von Heike Buchter

Es ist leicht zu erkennen, wer der größte Arbeitgeber von Battle Creek ist. Die Stadthalle der Kleinstadt im US-Bundesstaat Michigan heißt Kellogg Auditorium, die örtliche Bank Kellogg Credit Union. Es gibt die Kellogg-Sportarena, das Kellogg Community College und die Kellogg-Stiftung. Das Zentrum dominiert ein Bau, der wie ein überdimensionierter Stapel ziegelfarbener Boxen aussieht. Das ist das Hauptquartier des Cornflakesherstellers. “Es gibt so gut wie niemanden hier in Battle Creek, der nicht direkt oder indirekt für Kellogg’s arbeitet oder einen Angehörigen hat, der dort arbeitet”, sagt Sharleen Phillips, die beim örtlichen Tourismusbüro aushilft, wo sich Schüsseln, Puzzles und Poster von Kellogg’s stapeln.

Wer mit den Menschen in Battle Creek spricht, spürt schnell eine Beklemmung, fast so durchdringend wie der Geruch nach heißer Melasse und Maische, der von den Cornflakes-Fabriken herüberzieht und jeden Winkel durchdringt. Denn Kellogg’s, dessen Packungen mit dem krähenden Hahn und dem Frosties-Tiger Tony zu den Kindheitserinnerungen von Generationen gehören, geht es seit Jahren nicht mehr gut. Die Absatzzahlen für Frühstückscerealien sind kontinuierlich gesunken. Allein in den vergangenen zwei Geschäftsjahren verlor Kellogg’s wichtigste Sparte 10 Prozent, einige Marken büßten laut der Marktforschungsgruppe Consumer Edge Research im Jahr 2014 sogar über 20 Prozent ein. Selbst in den ersten Jahren der Rezession nach der Finanzkrise seien die Geschäfte besser gelaufen, sagt John Adam, ein Gewerkschafter, der Kellogg’s-Arbeiter in Battle Creek vertritt. Seinen richtigen Namen will er lieber nicht gedruckt sehen, um das Verhältnis zum großen Arbeitgeber nicht zu belasten. Die Kellogg-Mitarbeiter fürchten um ihre Stellen: Das Management hat ein mehrjähriges Sparprogramm namens Project K gestartet, das Tausende Jobs kosten wird. Ein Werk in Kanada hat Kellogg’s bereits geschlossen. Eine Interviewanfrage der ZEIT lehnte das Unternehmen ab.

Erstmals schließt die Fast-Food-Kette McDonald’s mehr Filialen, als sie eröffnet

Kellogg’s, gegründet im Jahr 1906, ist nicht die einzige amerikanische Traditionsmarke, die gegen den Abstieg kämpft. Coca-Cola hat kürzlich die Preise angehoben, um die sinkende Nachfrage zu kompensieren. Heinz-Ketchup wurde vom Großinvestor Warren Buffett und der brasilianischen Heuschrecke 3G Capital übernommen und im Frühjahr mit dem ebenfalls siechen Kraft-Foods-Konzern – dem Hersteller von Philadelphia-Streichkäse und Oscar-Mayer-Wurstwaren – zwangsverheiratet. Die neuen Eigentümer warfen das Management hinaus und wollen die Belegschaft um zehn Prozent reduzieren. Auch Fast-Food-Riese McDonald’s schließt dieses Jahr mehr Restaurants, als er neue eröffnet – das erste Mal in seiner fast 70-jährigen Geschichte.

Über Jahrzehnte haben die großen Food-Konzerne davon profitiert, wie die Mehrheit der Amerikaner lebte und sich ernährte. Sie kaufte Fertigprodukte, die kaum etwas anderes waren als verschiedene Kombinationen von Fett, Kohlenhydraten, Zucker und Salz. Die Produkte wurden mit großen Marketingbudgets vertrieben. Doch was einst modern und effizient war, gilt heute vor allem bei der wichtigen millennial-Generation als ungesund und uncool. In einer Zeit, in der fast jede Kleinstadt zwischen Minnesota und dem Mississippi stolz einen farmer’s market mit lokalem Gemüse und Obst präsentiert und Kochsender mit Nachrichtenkanälen um Einschaltquoten konkurrieren, haben Anbieter standardisierter Massenlebensmittel ihren Reiz verloren.

Dahinter steckt ein weitreichender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbruch in den USA: Er verändert die Arbeitswelt, die Einkommensverteilung, den Alltag der Menschen und ihre Gewohnheiten. In der digital economy, die aus immer mehr Arbeitnehmern Auftragnehmer macht und in der Arbeitszeiten sich flexibel nach den Anforderungen des Unternehmens richten, bleibt noch weniger Zeit zum Kochen und Genießen. Gleichzeitig sind die Ansprüche an Nahrungsmittel gestiegen, sie sollen nicht nur gesund für den Konsumenten selbst sein, sondern auch noch gut für die Umwelt. Beim Befüllen ihres Einkaufswagens drücken Verbraucher durch ihre Kaufentscheidungen auch ihre Überzeugungen aus. Die alten Marken mit ihrem sonnigen Fortschrittsglauben, die aus der Industriezeit überdauert haben, erfüllen weder die Sehnsucht nach einer besseren Welt, noch passen sie zum hektischeren Lebensstil der neuen Wirtschaftsordnung.

Die Krise der großen Marken lässt sich nicht nur bei Kellogg’s, sondern auch bei McDonald’s beobachten. Der trotzige Werbeslogan “I’m lovin’ it” ändert nichts am Abstieg. In New York geriet McDonald’s vor ein paar Monaten in die Schlagzeilen, weil eine seiner Restaurantbetreiberinnen eine Gruppe koreanischer Rentner von der Polizei hinauswerfen ließ, die ihrer Meinung nach zu lange dort herumsaßen. Ihre Filiale sei schließlich kein Altenclub, argumentierte die McDonald’s-Franchisenehmerin, als es zu Protesten kam. Ein Einzelfall, der aber ein Schlaglicht auf ein Problem des Konzerns wirft: An ihm klebt das Image derer, die vom Wandel überholt wurden.

Die einstigen Ikonen wehren sich gegen den Abstieg. McDonald’s versucht mit immer neuen Produkten und Strategien, wieder Anschluss an den Zeitgeist zu finden. Die Kette, für die Pfeffer bisher das Äußerste an exotischen Gewürzen darstellte, experimentiert mit mexikanischer Pico-de-Gallo-Soße, Quinoa und Jalapeño-Schoten. Steve Easterbrook, im März zum neuen Chef ernannt, kündigte gleich mehrere Neuheiten an. Etwa das “Artisan Grill Chicken”, eine Frikadelle, die, wie McDonald’s betont, “zu 100 Prozent aus Hühnerbrust” besteht. Dazu gibt es ein “knackiges Salatblatt” sowie eine “frische Tomate”.

Außerdem will Easterbrook, ein gebürtiger Brite, mobile Bestellungen möglich machen. Bei einem Pilotprojekt in einzelnen Filialen können Kunden sich am Touchscreen einen Burger nach jeweiligem Gusto zusammenstellen. Nach einer Testphase bei den technologiebegeisterten Kaliforniern gibt es das Angebot jetzt auch in New York. Damit möchte der Fast-Food-Konzern die jüngere Generation ansprechen, ebenjene, die die Restaurants mit dem goldenen M bisher weitgehend gemieden haben. Easterbrooks bisher erfolgreichste Innovation ist allerdings eher simpel: Frühstück gibt es nun den ganzen Tag.

Ob der nun ganztägig erhältliche Egg McMuffin ausreicht, McDonald’s wieder zu einer “fortschrittlichen Burgerkette” zu machen – Easterbrooks erklärtes Ziel –, ist zu bezweifeln. Dabei ist Fast Food an sich keineswegs aus der Mode gekommen. Shake Shack, eine Burgerbraterei des New Yorker Nobel-Restaurateurs Danny Meyer, feierte jüngst sogar ein erfolgreiches Börsendebüt; allein in den ersten drei Quartalen konnte die Kette ihre Verkäufe gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 70 Prozent steigern.

Besonders ärgern muss McDonald’s aber der Erfolg von Chipotle. Denn McDonald’s war an dem Schnellimbiss, dessen Topseller Burritos sind, bis 2006 beteiligt. Seit dem Ausstieg hat Chipotle den Umsatz um 30 Prozent auf eine Milliarde Dollar gesteigert und gilt als Star der am schnellsten wachsenden Gastronomie-Kategorie, dem Fast Casual Dining – Selbstbedienungsrestaurants mit Stil und dem Anspruch, Qualität zu bieten. Zu den Erfolgsfaktoren gehört das Versprechen, “Essen mit Integrität” zu liefern. Zuletzt verkündete das Unternehmen, als erste Restaurantkette auf gentechnisch hergestellte Lebensmittel zu verzichten.

Das Beispiel zeigt allerdings, dass die Außendarstellung der neuen Marken wichtiger ist als die Inhaltsstoffe ihrer Produkte: Ein typischer Burrito hat nach einer Stichprobe der New York Times bis zu tausend Kalorien, während ein Big Mac von McDonald’s nur auf etwas mehr als halb so viel kommt (mit einer großen Portion Pommes landet man allerdings ebenfalls bei tausend Kalorien). Der Burger, einer der teureren McDonald’s-Produkte, kostet im US-Durchschnitt knapp unter fünf Dollar, während Chipotle für einen Burrito 6,50 Dollar und mehr verlangt. Aber das Image kommt an. Sogar Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton kehrte bei ihrer Wahlkampftour dort ein. Ihr Mann Bill hatte sich bei seiner Kandidatur in den 1990er Jahren noch bei McDonald’s sehen lassen.

Die Krise der etablierten Marken lässt sich ausgerechnet mit ihrem großen Erfolg in der Vergangenheit erklären. So wie sie heute zu den Verlierern gehören, waren sie einst die Gewinner eines ähnlich einschneidenden Umbruchs – und wie heute Chipotle galt einst McDonald’s als Vorreiter. Mit der Industrialisierung änderten sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Essgewohnheiten. Arbeiter und Angestellte hatten nur eine halbe Stunde Mittagspause, zu wenig Zeit, um zum Essen nach Hause zu gehen. Die Lösung waren Quick-Lunch-Restaurants, die einfache, billige und schnelle Gerichte servierten. Dann wurden Autos für die Masse erschwinglich. Es ist kein Zufall, dass der Erfolg der McDonald’s-Brüder in diese Zeit fällt. Ihre erste Filiale servierte Hamburger direkt ins Auto. Aber vor allem war es das Konzept, Mahlzeiten am Fließband zu produzieren, das für die Gastronomie so revolutionär war wie Fords Model T für Detroit.

Ähnlich wie McDonald’s war auch Kellogg’s einst ein Vorreiter. Wer heute im Supermarkt nach Frühstücksflocken sucht, hat Regalmeter bunt bedruckter Pappboxen zur Auswahl. Kaum vorstellbar, dass die Pops und Puffs – inzwischen wegen ihres geringen Nährstoffgehalts und hohen Zuckeranteils bei Ernährungsexperten und Eltern in Verruf geraten – einst von einem Gesundheitsapostel erfunden wurden. John Harvey Kellogg war ein ehrgeiziger junger Arzt. 1876 übernahm er ein Sanatorium der Adventisten in Battle Creek. Die Adventisten lehnten nicht nur Alkohol und Tabak ab, sondern predigten auch Verzicht auf Fleisch. Kellogg führte außerdem Frischluftkuren und Bewegungstherapien ein. Zu seinen Innovationen gehörten Fitnessgeräte wie etwa ein künstliches Kamel, dessen Vibrationen die Verdauung anregen sollten. Bald war das Sanatorium, dessen Neorenaissance-Türme noch heute über Battle Creek ragen, der Treffpunkt der Reichen und Schönen. Zu Kelloggs Patienten gehörten unter anderem Automagnat Henry Ford, Erfinder Thomas Edison und Präsidentengattin Eleanor Roosevelt.

Die Cornflakes verdankt die Welt einem Missgeschick. Auf der Suche nach Diätkost hätten Kellogg und sein jüngerer Bruder Will einen Versuchsbrei angerührt, erzählt Betty Scherencel, die Besucher durch das Sanatorium führt. Dabei seien die Brüder aber unterbrochen worden. Als sie später in die Küche kamen, fanden sie die inzwischen abgestandene Masse vor. Immer aufs Budget bedacht, beschlossen die Kelloggs den Teig trotzdem auszuwalzen und zu backen. Heraus kamen getoastete Flocken, die bei ihren Patienten auf Anhieb ein Erfolg wurden. Doch Will wollte aus der Entdeckung ein großes Geschäft machen – und gab dem Rezept Zucker hinzu, um die Flocken schmackhafter zu machen. Sein gesundheitsbewusster Bruder verzieh ihm das nie – sie blieben bis zum Tod verfeindet.

Statt Frühstücksflocken gibt es heute Energieriegel

Kellogg fand viele Nachahmer. Um die Jahrhundertwende gab es 106 Frühstücksflockenproduzenten, ein wahrer Cerealienrausch, den der amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle in seinem 1994 verfilmten Schelmenroman Road to Wellville verewigte. Die Frühstücksflocken gehörten zu den ersten Fertiggerichten, die ihren Erfolg geschicktem Marketing verdankten. “Wenn ›made in Battle Creek‹ auf der Packung stand, kauften die Leute es, denn es galt als gesund”, sagt Don Scherencel vom Kellogg Discovery Center in Battle Creek. Kellogg’s erfüllte Müttern den Wunsch, ihren Kindern etwas Gesundes zu servieren, und ermöglichte die Zeitersparnis, die der moderne Lebensstil verlangte.

Doch während die Industrialisierung die Arbeitszeiten in starre Schichten am Fließband verwandelte, flexibilisiert die Digitalisierung sie heute. Immer weniger Arbeitnehmer verbringen Achtstundentage in Fabriken oder Büros. Stattdessen besteht ihr Arbeitsalltag aus Einsätzen und Projekten. Feierabend und Wochenende werden zu Relikten der Industriegesellschaft. Das haben die neuen Marken erkannt: Sie wissen, wie sie sich verkaufen müssen in einer Zeit, in der der Alltag für viele US-Bürger fragmentierter und hektischer geworden ist. Der Erfolg der Caféhauskette Starbucks ist kein Zufall. Gründer Howard Schultz inspirierte eine Welle solcher Cafés, die heute als De-facto Büros der neuen Selbstständigen fungieren. Dort ordern sie einen Latte, schlagen ihre Laptops auf und halten Meetings ab.

Dabei wollen die Amerikaner genau wie einst zu Kelloggs Zeiten gesünder leben. Nur sind es andere Marken, die ihnen das Gefühl vermitteln, dieses Bedürfnis zu stillen. “Wir kaufen Hochglanz-Kochbücher und schauen Meisterköchen im Fernsehen zu, aber unsere Essgewohnheiten gehen weiter in Richtung Snack”, sagt Food-Autorin Abigail Carroll, die ein Buch über die Entwicklung amerikanischer Essgewohnheiten geschrieben hat. Gegessen wird am Schreibtisch, am Steuer, im Bus. Und wieder hat die Lebensmittelindustrie reagiert. Statt Frühstücksflocken, die man erst noch in eine Schüssel geben und mit Milch anrichten muss, gibt es Gesundheit to go: Energieriegel namens Kind, die versprechen, “gesund und schmackhaft” zu sein, oder Häppchen von Living Raw, garantiert aus ursprünglichen Zutaten.

Zu den großen Gewinnern des Gesundheitssnack-Trends gehört Chobani mit seinem Joghurt griechischer Art. Die Entstehung der Marke kann es mit Kelloggs aufnehmen. Gründer Hamdi Ulukaya, Sohn eines türkischen Molkereibetreibers, entdeckte 2005 eine Kleinanzeige, in der eine ehemalige Milchfabrik von Kraft Foods angeboten wurde. Erst warf er die Zeitung in den Papierkorb, dann war er doch interessiert. Heute ist Ulukaya Milliardär, über 20 Prozent des schnell wachsenden Marktes bedient der Joghurtkönig laut dem Finanznachrichtendienst Bloomberg inzwischen.

Die alten Marken werden hingegen zunehmend zur Kost derjenigen, die der Wandel zurücklässt. Früher war es die breite Mittelschicht, die diese Produkte kaufte – doch dieser Bauch der Gesellschaft schrumpft, genau wie ihre Nachfrage nach dem Supersize-Essen aus Fett, Zucker, Salz und Kohlenhydraten. In den siebziger Jahren arbeiteten 4.000 Menschen im Kellogg’s-Werk in Battle Creek, heute sind es nur noch 400. Zumindest Gewerkschafter John Adam, dessen Familie in der vierten Generation bei Kellogg’s arbeitet, hält an den Cornflakes fest. Jeden Morgen frühstückt er mit seinen drei Kindern die hauseigenen Cerealien. “Die sind günstiger und gesünder als so manches andere”, beteuert er.

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