Der Exportmeister Deutschland war Obamas wirtschaftliches Vorbild. Doch jetzt besucht er ein Land, dessen Bürger freien Welthandel zunehmend skeptisch sehen. Denn sie zahlen den Preis für den Erfolg.
Der Präsident verkündete Vollzug. Die Autoindustrie habe “gerade das beste Jahr ihrer Geschichte” abgeschlossen, verkündete Barack Obama kürzlich in seiner letzten Rede zur Lage der Nation. Und das sei nur ein Aspekt der Wiedergeburt der US-Industrie, die “fast 900.000 neue Jobs” gebracht habe.
Bereits 2010 hatte der US-Präsident ein breit angelegtes Reindustrialisierungsprogramm angestoßen. Das Vorbild war klar identifiziert: Deutschland . Amerikas Exporte sollten sich verdoppeln, Lehrstellen für junge Leute geschaffen und ein Technologietransfernetzwerk nach dem Vorbild der deutschen Fraunhofer Institute gegründet werden.
Amerika sollte endlich wieder mehr echte Dinge produzieren. Ein heftiger Anfall von “Deutschland-Neid” habe die Amerikaner erfasst, konstatierte die Zeitschrift “The Atlantic”: starker Fertigungssektor, viele anständige Arbeitsplätze, gut ausgebildete Mittelschicht.
Nun ist Obama zur Eröffnung der Hannover-Messe angereist, die Montag ihre Tore öffnet; die USA sind dieses Jahr Partnerland. Der Präsident erlebt Paradoxes: Die Bundesrepublik ist heute ein Land, dessen Wohlstand zum großen Teil auf seiner exportstarken Industrie fußt, das immer größere Überschüsse mit dem Rest der Welt erwirtschaftet, dessen Bevölkerung aber internationalen Austausch zunehmend kritisch sieht.
Schon seltsam: Nur noch 56 Prozent der Bundesbürger halten intensiveren Handel für eine gute Sache, 27 Prozent für eine schlechte. Eine massive Eintrübung binnen nur zwei Jahren: Damals sahen noch 88 Prozent die Ausweitung des Handels positiv, nur 9 Prozent negativ, wie eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Besonders ablehnend stehen die Deutschen dem geplanten Handels- und Investitionsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA gegenüber: 33 Prozent der Befragten fänden das Abkommen schlecht, nur 17 Prozent gut, so die Studie.
Nach Obama wird ein Handelsabkommen schwieriger
Der Streit um TTIP beschäftigt derzeit auch Europas Spitzen. Während sich Montag die Fachleute zur nächsten Verhandlungsrunde in New York treffen, kommen in Hannover Obama und Merkel mit David Cameron (Großbritannien), François Hollande (Frankreich) und Matteo Renzi (Italien) zu einem kurzfristig anberaumten transatlantischen Mini-Gipfel zusammen. Eines der Themen: Wie lässt sich das Abkommen noch abschließen bevor Obama abtritt? Denn egal wer als nächstes ins Weiße Haus einzieht, nach einem Vorwahlkampf mit deutlich protektionistischem Zungenschlag dürfte es schwierig werden, künftig noch in Washington Mehrheiten für internationale Handelsdeals zusammenzubekommen.
Gerade für Deutschland geht es um viel. Keine andere große Volkswirtschaft der Erde ist so offen wie die deutsche. Die Exportquote hat sich seit Anfang der Neunzigerjahre verdoppelt. Entsprechend anfällig ist die Konjunktur für weltwirtschaftliche Verwerfungen (achten Sie Montag auf den Ifo-Geschäftsklimaindex ) . Früher war die Wirtschaft vor allem auf die übrige Eurozone fixiert. Inzwischen resultiert der gigantische außenwirtschaftliche Überschuss – derzeit mehr als 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – zu drei Vierteln aus dem Austausch mit dem Rest der Welt, wie kürzlich die OECD vorrechnete. Während das übrige Europa seit Jahren in einer Dauerstagnation feststeckt, während große Schwellenländer schwächeln (China) oder tiefe Krisen durchmachen (Russland, Brasilien), ist die Nachfrage aus den USA einer der wenigen Lichtblicke in der ansonsten trüben globalen Szenerie. 2015 war Amerika Deutschlands größter Exportmarkt, größer als Frankreich. Der Ausfuhrüberschuss im US-Handel lag bei stolzen 55 Milliarden Euro. Gerade die von Obama inszenierte Reanimation der amerikanischen Industrie hat deutschen Exporteuren genützt, zu deren Spezialitäten Maschinen und Anlagen gehören.
Fakten, die Fragen aufwerfen. Wenn die Bundesrepublik so sehr vom globalen Austausch profitiert, warum sehen dann ausgerechnet die Deutschen die fortschreitende Globalisierung so kritisch? Warum lehnen so viele ein Abkommen mit den USA ab, von dem aller Erfahrung nach insbesondere die deutsche Industrie profitieren würde? Sind die Deutschen einfach irrational?
Die Globalisierung hat einer Mehrheit der Bürger nicht die versprochenen Wohlstandszuwächse gebracht. Zwar hat sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt seit 2006 enorm verbessert (Donnerstag gibts neue Zahlen aus Nürnberg ), aber das wird inzwischen als selbstverständlich angesehen.
Die Mittelschicht zahlt den Preis
Die Einkommen jedoch entwickeln sich ungleichmäßig: Insbesondere das wohlhabendste Zehntel der Bevölkerung hat spürbar mehr Geld zur Verfügung als im Jahr 2000, wie Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigen. Die Mittelschichten jedoch erleben eine Stagnation ihres Lebensstandards: Die enormen deutschen Außenhandelsüberschüsse wurden mit Lohnzurückhaltung erkauft.
Parallel dazu zeigt die Globalisierung nun ihr hässliches Gesicht. Terroranschläge, schwer steuerbare Migration, dazu die gerade wieder aufflammende Eurokrise (achten Sie auf die Griechenland-Verhandlungen ) – die Welt da draußen wirkt zunehmend unberechenbar.
Und weder Regierungen noch Unternehmen noch europäische Institutionen scheinen daran Substanzielles ändern zu können, was wiederum zu Verdruss über die Eliten führt: 70 Prozent der Deutschen misstrauen politischen Parteien, 57 Prozent der Bundesregierung. Nicht viel besser stehen die Europäische Zentralbank oder die Europäische Kommission da, so die letzte Eurobarometer-Umfrage vom Herbst. Ähnlich kritisch sehen die Bürger Unternehmen, wie die US-Kommunikationsagentur Edelman ermittelt hat.
Die Deutschen stehen übrigens mit ihrer Skepsis nicht allein da. In anderen Ländern – zumal in Barack Obamas USA – ist der Vertrauensverlust noch ausgeprägter. Allerdings macht das den Befund nicht besser. Wenn sich die Überzeugung durchsetzt, die Globalisierung nütze letztlich nur einer Minderheit, dann wird sich die offene Wirtschaftsordnung nicht halten lassen. Klar, ohne die Globalisierung ginge es den allermeisten in Deutschland materiell spürbar schlechter. Aber das ist nicht gerade ein starkes Argument für eine weitere Öffnung.
Und jetzt? Ist die Globalisierung noch zu retten? Was tun?
Erstens muss der Staat beweisen, dass er noch handlungsfähig ist. Der verbreitete Eindruck, wonach staatliche Institutionen Probleme nicht mehr lösen können, ist verheerend. Die Bürger erleben die Gegenwart als Kette von Krisen, die nicht gelöst, sondern vertagt werden. Statt einer Renationalisierung der Politik bedarf es dringend innovativer übernationaler Politikansätze, weil sich viele Felder nicht mehr national bestellen lassen .
Zweitens muss Deutschland von seinen exorbitanten Leistungsbilanzüberschüssen herunterkommen. Statt jährlich Kapital im Wert von rund einer Viertel Billion Euro an den Rest der Welt zu verleihen, sollte mehr Geld im Lande bleiben: in Form von höheren Löhnen (achten Sie auf die Tarifverhandlungen Montag und Donnerstag) und von Investitionen – damit die materiellen Segnungen der Globalisierung breiter gestreut werden.
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