Angesichts der Krisen und Kriege in der Welt besteht existenzieller Bedarf an einer kühnen neuen Realpolitik. Die Kooperation von Washington und Moskau in Syrien zeigt, was möglich ist.
Der Atlantik wird breiter, und die Europäer im Allgemeinen, Deutschland im Besonderen müssen etwas dagegen tun – wenn sie denn wüssten, was. Mehr Nationalfarben denn je zuvor flattern vor dem Nato-Hauptquartier am Brüsseler Boulevard Leopold III, und ähnlich sieht es aus vor dem Berlaymont, wo die Europäische Union ihr Zentrum hat.
Aber man soll sich nicht täuschen: Ohne die Letztgarantie durch die Vereinigten Staaten von Amerika würde das europäische Schachbrett erst langsam und dann immer schneller in Schieflage geraten. Die europäische Konstruktion ruht nicht in sich selbst.
Russland ist der Machtfaktor, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch keine dauerhaft stabile, damit berechenbare und voraussagbare Rolle gefunden hat – ob es um die Annexion der Krim geht, den Hybridkrieg im Osten der Ukraine, den Druck auf Georgien und die gefrorenen Konflikte an der unteren Donau.
Vieles erinnert heute wieder an das mahnende Wort von George Shultz, Reagans weltweisem Außenminister, der warnte, Russland gleiche einem schwer verwundeten Grizzlybären: stark, unberechenbar und mit langem Gedächtnis. Dass die westlichen Sanktionen als Mittel der Kommunikation ausreichen, kann niemand ernsthaft glauben.
Führungsanspruch und Rücksichtslosigkeit
Wer auch immer, Hillary Clinton oder Donald Trump, im November gewählt wird und im Januar ins Weiße Haus einzieht und aus dem Oval Office mit der Welt kommuniziert – die Vereinigten Staaten werden die in ihren historischen Genen angelegte Wendung nach innen und zum Pazifik fortsetzen.
Sie bleiben zwar mutmaßlich Weltmacht noch auf lange Zeit in allen Dimensionen, von der Popkultur und Cyberspace bis zu den Flugzeugträgern und der Fähigkeit, Raketen durch Raketen zu zertrümmern. Aber um die Europäer vor selbst gewählter Schwäche und weltpolitischen Abhängigkeiten zu bewahren, fehlt es an Kraft und Bereitschaft.
Das alte Sendungsbewusstsein, das zuletzt noch als Hybris den Einmarsch in den Irak des Saddam Hussein beflügelte, ist verloren, die “manifest destiny” im innenpolitischen Grabenkampf zerrieben. Der amerikanische Anspruch auf Besonderheit – “exceptionalism” – erweist seine gefährliche Doppeldeutigkeit: Führungsanspruch und Rücksichtslosigkeit.
Jene “partnership in leadership”, die George Bush der Ältere in Mainz am Vorabend der großen Umbrüche den Deutschen anbot, blieb damals unbeantwortet und offen, reichte aber noch, die deutsche Einheit gemeinsam ins Trockene zu bringen. Aber würde sie, jenseits von G 8 und G 20, heute noch einmal wiederholt?
Europa ist nicht mehr die “Central Front” des Kalten Krieges – und man beeilt sich, ein “Gott sei Dank” hinzuzufügen. Aber Europa ist auch nicht der starke, verlässliche atlantische Partner, den die USA brauchen, Präsident John F. Kennedys niemals realisierte “zweite Säule”. Dass weitere dramatische Kündigungen nach dem Modell Brexit bisher ausblieben, ist erfreulich, aber keine Garantie, dass der Status quo stabil, verlässlich und prägend für die Zukunft wäre.
Sicherheitsarchitektur Europas nur auf dem Papier
Das stellt die Europäer vor Aufgaben, namentlich in Fragen der Sicherheit, die sie über viele Jahrzehnte, mitunter murrend und zahlungsunwillig, gern den Vereinigten Staaten und ihrer Steuerung überließen. Am meisten galt dies nach dem Fall der Berliner Mauer, als die “lone surviving superpower” omnipotent dastand, der Aufstieg Chinas zur Weltmacht sich noch hinter dem Horizont abspielte und Russland mit sich selbst beschäftigt war und mit der Suche nach dem verlorenen Imperium.
Mit einem Wort: Die Sicherheitsarchitektur Europas gibt es nur noch auf dem Papier. In der realen Welt ist darauf nicht mehr viel Verlass. Der viel gepriesene Artikel fünf des Nordatlantischen Vertrages ist nicht die “eisenharte Garantie” der Sicherheit Europas vor russischen Abenteuern, wie der amerikanische Präsident, auf Abschiedsreise durch die baltischen Staaten es noch unlängst formulierte.
Artikel fünf gibt ein Beistandsversprechen unbestimmten Inhalts – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dass Kandidat Donald Trump das auch noch für die Bündnispartner von pünktlich gezahlten Rechnungen abhängig machen will, zur Freude der Kremlgewaltigen, zeigt, wie schwankend der Boden ist, auf dem das atlantische System steht.
Die vertraglichen Stationierungsverzichte im Verlauf der Nato-Osterweiterung seit 1997 – keine Nuklearwaffen, keine substanziellen Truppen, keine Raketenabwehr – geben nicht nur den Russen einen Rechtsanspruch, in Nato-Fragen mitzusprechen, sondern öffnen auch viel zu schnell das Dilemma, ins Nukleare zu eskalieren oder aufzugeben. Die Europäer werden in den Krisen und Kriegen der Gegenwart erbarmungslos getestet.
Es sind, fast auf den Tag genau, 70 Jahre, dass der amerikanische Außenminister “Judge” Byrnes im Stuttgarter Landtag den Nachkriegsdeutschen bessere Zeiten versprach und den Nachkriegseuropäern die Zusicherung gab, Amerika würde solange in Europa bleiben, wie es die Lage erfordere und die Europäer es wünschten.
Existenzieller Bedarf an kühner Realpolitik
Aus der doppelten Eindämmung, der deutschen Vergangenheit und der sowjetischen Zukunft, entstand in schneller Folge ein Weltentwurf, dessen Eckwerte Marshallplan und Nordatlantikpakt waren, und jenes atlantische System, dessen Anziehungskraft am Ende ausreichte, die Sowjetmacht zu überwinden.
Was nicht gelang, aus amerikanischen wie aus russischen Gründen, war die dauerhafte Kooptation Russlands in einem europäischen Friedens- und Sicherheitsverbund. Es ist spät, aber nicht zu spät, daran zu arbeiten. Ausmaß und Gewicht der gemeinsamen Interessen sind nicht gering, von Rauschgiftbekämpfung bis zur nuklearen Proliferation, Terror und Kriegen im islamischen Krisenbogen bis zu den anschwellenden Völkerwanderungen. Die aktuelle Einigung zwischen Washington und Moskau in Sachen Syrien zeigt, was möglich ist.
Nichts davon ist zu bewältigen ohne ernsthafte, auf Dauer angelegte Kooperation zwischen Russland und dem Westen. Jenes Kriegsvermeidungskartell der Nuklearmächte, welches die letzten Jahre des Kalten Krieges berechenbar machte und das Management des Endspiels entschärfte, kam nicht aus Erhebung der Herzen, sondern war das Ergebnis von Furcht und Vernunft.
Wer wollte angesichts der Krisen und Kriege in der Welt heute sagen, dass nicht existenzieller Bedarf besteht an einer kühnen neuen Realpolitik? Es gibt keine größere Aufgabe.
Leave a Reply
You must be logged in to post a comment.