Dozens Gunned Down in the Open Desert

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Fast 100 syrische Regierungssoldaten sind bei einem Angriff der Amerikaner gestorben. Dabei war nach Gesprächen mit Russland eine Waffenruhe zustande gekommen. Moskau stellt nun zwei bohrende Fragen.

Washington spricht von einem Versehen und hat der Regierung in Damaskus sein Bedauern übermittelt. Doch der amerikanische Luftangriff auf syrische Regierungstruppen am Samstagabend nahe der Metropole Deir al-Sor im Osten des Landes hat den jüngsten, ohnehin extrem instabilen Waffenstillstand in dem fünf Jahre währenden syrischen Bürgerkrieg möglicherweise endgültig torpediert. Vor allem aber verschärft die blutige Attacke, der nahezu 100 syrische Soldaten zum Opfer gefallen sein sollen, am Vorabend der UN-Generalversammlung die Spannungen zwischen den USA und Russland.

Der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin bezweifelt die Darstellung Washingtons, die Attacke hätte eigentlich den Terrormilizen des Islamischen Staats (IS, auch Isis oder Isil) gegolten. Zwar ist der von Tschurkin insinuierte und von der syrischen Regierung offen formulierte Verdacht, die USA hätten die erst am vorigen Montag in Kraft getretene Feuerpause aushebeln wollen, bei näherer Betrachtung nicht sehr naheliegend. Gleichwohl bleibt der Eindruck einer irritierenden Fehlleistung des Militärs und der geheimdienstlichen Aufklärung der einzigen Weltsupermacht.

Der Zwischenfall fand statt nahe dem Berg al-Tharda vor den Toren von Deir al-Sor in der gleichnamigen Provinz. Nach US-Darstellung attackierten US-Kampfflugzeuge, deren Zahl von den Russen mit vier angegeben wird, über einen Zeitraum von rund 20 Minuten einen militärischen Konvoi, den sie bereits seit Tagen beobachtet hätten und zu dem mindestens ein Panzer gehört habe, der den IS-Kräften zugerechnet wurde.

Dabei seien, so berichtet die „New York Times“ unter Berufung auf eine Quelle aus dem Central Command der US-Truppen in Tampa (Florida), „Dutzende Menschen in der offenen Wüste niedergeschossen worden“, mutmaßlich fliehende syrische Soldaten. Als russische Offizielle das US-Kommando in Katar informierten, bei dem Ziel handele es sich um syrische Regierungstruppen, sei die Attacke sofort gestoppt worden.

Erst am 12. September war nach zehnmonatigen Verhandlungen insbesondere zwischen US-Außenminister John Kerry und seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow ein Waffenstillstand in Kraft getreten. Er sollte nicht zuletzt die Luftangriffe der Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gegen Oppositionelle und Zivilisten stoppen und humanitäre Hilfe für Aleppo und andere umkämpfte Städte ermöglichen.

Syrische Regierungstruppen von US-Militär nie angegriffen

Die Kämpfer von Isil und Dschabhat Fatah Al-Scham (zuvor Al-Nusra-Front) sind nicht Bestandteil des Waffenstillstandes und dürfen darum auch weiterhin angegriffen werden. Sollte die Vereinbarung für eine Woche eingehalten werden, würde an diesem Montag der Austausch von Geheimdienstinformationen zwischen den USA und Russland sowie die Koordinierung ihrer Angriffe gegen terroristische Organisationen beginnen. Das ist nun fraglich geworden.

Das Abkommen bot Russland und dem verbündeten syrischen Regime von Beginn an mehr Vorteile als den USA und den als moderat eingestuften Rebellengruppen. Denn die Einstellung aller übrigen Kampfhandlungen und gleichzeitige Koordinierung der Attacken gegen Isil und Dschabhat Fatah Al-Scham hätte zu einer Entlastung der syrischen Regierungstruppen geführt. Die USA hingegen, die seit Beginn des nunmehr fünfjährigen Bürgerkriegs die Beendigung der Herrschaft von Assad fordern, hätten darauf verzichten müssen, gemäßigte Rebellengruppen zu unterstützen. Syrische Regierungstruppen hat das US-Militär nie angegriffen – bis zu dem aktuellen Zwischenfall.

Tschurkin stellte bei einem Presseauftritt vor den Vereinten Nationen in New York zwei bohrende Fragen: Warum wollten die USA, wie sie sagen, in Deir al-Sor den Islamischen Staat angreifen, obwohl sie damit den von Russland unterstützten syrischen Militärs eine direkte Hilfestellung leisteten? In der Vergangenheit taten sie dies nicht. Und wenn sie sich tatsächlich dazu entschlossen hatten, warum warteten sie nicht bis zu diesem Montag und dem Beginn des Austauschs von Geheimdienstinformationen, um ein klareres Bild zu gewinnen? Während Russland durch seine Präsenz in Syrien und seine Partnerschaft mit dem Assad-Regime über Informationen aus menschlichen Quellen, sogenannte Humint, verfügt, sind die Amerikaner fast ausschließlich auf elektronische Aufklärung angewiesen.

USA in der Defensive

Doch Tschurkins indirekter Vorwurf überzeugt nicht: Wenn die USA den Waffenstillstand wirklich nicht wollten, hätten sie ihn bei den hinter verschlossenen Türen geführten Verhandlungen unter irgendeinem Vorwand hintertreiben können, etwa durch die Forderung nach schärferen Auflagen für Operationen des syrischen Militärs. Der jetzt durchgeführte Luftangriff jedoch lässt sie vor den Augen der Weltöffentlichkeit entweder als vertragsbrüchig oder als militärische Versager dastehen und pulverisiert das ohnehin minimale Vertrauen in der Region in Washingtons hehre Absichten zusätzlich.

Daran können die USA kein Interesse haben. Schon das jetzt von Moskau beantragte Dringlichkeitstreffen des UN-Sicherheitsrates, gegen das Washington sein Veto einlegte, weil es die Details des Waffenstillstandsabkommens nicht veröffentlichen wolle, rückt die USA in die Defensive und spielt Moskau in die Karten.

Zu konstatieren ist viel eher, dass alle beteiligten Seiten bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle über ihre Operationen verloren haben, weil zu viele widerstreitende Interessen involviert sind. Das Alawiten-Regime von Assad wird vom schiitischen Iran und von Russland unterstützt; die USA wollen sich nicht direkt engagieren, unterstützen aber Rebellengruppen, die sie als moderat ansehen, obgleich diese engstens mit Dschihadisten-Gruppen zusammenarbeiten. Diese wiederum werden aus den Golfstaaten unterstützt, allen voran Saudi-Arabien. Und die Kurden im Norden kämpfen gegen den IS und werden dabei ihrerseits von der Türkei attackiert, die andererseits mit den Kurden übereinstimmt in dem Ziel, Assad stürzen zu wollen.

Die Tragik der erneuten Eskalation liegt im zu erwartenden Fortgang des syrischen Bürgerkrieges, dem bereits Hunderttausende Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, zum Opfer gefallen sind und der etliche Millionen Syrer in die Flucht getrieben hat, viele davon mit dem Ziel Europa.

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