Crossing the Pain Threshold

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Die Schmerzgrenze ist überschritten

Donald Trump hatte am Dienstag eine denkbar einfache Erklärung für die Aufregung vom Vortag parat. Gut 24 Stunden nachdem die gemeinsame Pressekonferenz mit Wladimir Putin in der Heimat für Entsetzen gesorgt hatte, stellte der Präsident klar: Er habe sich schlicht versprochen – das habe er selbst festgestellt, nachdem er sich noch einmal eine Aufnahme der entsprechenden Passage angesehen habe. Dabei habe er aus Versehen gesagt, er sehe keinen Grund dafür, warum Russland sich in die Wahlen einmischen solle. Was er eigentlich habe sagen wollen: Er sehe keinen Grund, warum das Land sich “nicht” habe einmischen sollen. Schuld war also die doppelte Verneinung. Selbstverständlich habe er auch “vollstes Vertrauen” in die Geheimdienste. Allerdings fügte er noch hinzu, es könnten auch andere gewesen sein, die sich in die Wahlen eingemischt haben. Für den Präsidenten war das Thema damit erledigt.

Doch außerhalb des Oval Office ist die Aufregung nicht vorüber. Nach dem Treffen in Helsinki, bei dem der US-Präsident und sein russischer Amtskollege sich in der Frage eines russischen Eingreifens in die Präsidentschaftswahl aus Sicht vieler Kommentatoren zu einig schienen und Trump die Ergebnisse der eigenen Geheimdienste gegen die Beteuerungen Putins abwägte, zeigten sich in Washington viele Konservative alarmiert – selbst diejenigen, die bei bisherigen Kontroversen um Trump lieber geschwiegen hatten. Der Präsident hat mit dem freundschaftlichen Besuch für viele in der Partei eine Schmerzgrenze überschritten – zu tief sitzt das Misstrauen gegenüber Moskau aus Zeiten des Kalten Krieges.

Selbst Mitch McConnell, Mehrheitssprecher im Senat und bekannt dafür, politische Fallstricke lieber zu vermeiden, fühlte sich gezwungen, den US-Geheimdiensten vor laufenden Kameras die volle Unterstützung und Russland sein Misstrauen auszusprechen. Auch Trey Gowdy, der noch vor einer Woche bei einer Anhörung den FBI-Mitarbeiter Peter Strzok angegriffen und ihm politische Motive unterstellt hatte – Strzok war erst an den Ermittlungen zu Hillary Clintons E-Mail-Server und später an den Russlanduntersuchungen beteiligt –, versuchte sich jetzt an einer umständlichen Distanzierung. Er sei zuversichtlich, dass das Team um Trump dem Präsidenten erklären könne, dass es möglich sei, das Eingreifen Russlands in die Wahlen anzuerkennen, “ohne dass das seinen Wahlsieg infrage stellt”.

Gouverneur Cuomo bringt “Landesverrat” ins Spiel

Viele wittern angesichts der breiten Kritik an Trumps Auftritt bereits eine Kehrtwende, die die Dynamik in Washington dauerhaft verändern könnte. “Der Damm ist gebrochen”, fasste Bob Corker, scheidender Senator aus Tennessee und einer der lautstärksten Kritiker bei den Republikanern, die Stimmung zusammen. Und die Demokraten ermahnten ihre konservativen Kollegen, dass es mit Stellungnahmen und Tweets nicht mehr getan sei. Die Republikaner müssten ihre “Abhängigkeit von Trump” überwinden, erklärten sie in einer eilig einberufenen Pressekonferenz am Dienstag. “Keine politische Karriere ist wichtiger als die Grundwerte unseres Landes.”

Nancy Pelosi, ranghöchste Demokratin im Repräsentantenhaus, hatte einige Vorschläge: Der Kongress müsse die Äußerungen des Präsidenten öffentlich verurteilen und die Ergebnisse der Geheimdienste bestätigen. Zugleich müssten die Bundesstaaten mehr Finanzmittel bekommen, um sich gegen künftige Angriffe auf ihr Wahlsystem zu wehren. Der New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo ging auf Twitter noch weiter. Der Kongress müsse entscheiden, ob die Kommentare und Handlungen des Präsidenten Landesverrat waren – und somit für ein Amtsenthebungsverfahren reichten.

Der Druck auf die Republikaner wächst

Bislang war die Angst vieler Republikaner vor politischen Konsequenzen zu groß, um sich über kleinere gesetzgeberische Korrekturen hinaus auf einen offenen Konflikt mit dem Präsidenten einzulassen. Aus gutem Grund: In der Partei und an der Basis genießt Trump inzwischen höhere Umfragewerte als sämtliche konservative Vorgänger – mit Ausnahme von George W. Bush in den Monaten nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center, als sich das Land hinter seinem Präsidenten versammelte. Die Republikaner im Kongress scheuen deshalb den Bruch mit Trump – zumal sich viele noch im November den Wählern stellen müssen. Zugleich fürchtet die Partei, kleinliche Debatten um das Verhalten des Präsidenten könnten von den eigentlichen Zielen wie einer Steuerreform oder der Besetzung des Supreme Courts unnötig ablenken.

Doch jetzt wächst der Druck, Position zu beziehen. “Das ist der Moment der Wahrheit für die Republikaner”, schrieb das Magazin The Atlantic. Die 51 republikanischen Senatoren und 236 konservativen Abgeordneten im Repräsentantenhaus seien die einzigen, die den Präsidenten in seine Schranken weisen könnten. “Sie sind es, die Anhörungen einberufen, Vorladungen erzwingen und den Präsidenten formal abmahnen können”, schrieb das Magazin. “Nur sie können sicherstellen, dass die Ermittlungen von Robert Mueller ungestört verlaufen, sie können das Eingreifen Moskaus in die Wahlen verurteilen und Maßnahmen ergreifen, um einen Eingriff in Zukunft zu verhindern.” Mit jeder Stunde, die verstreiche, ohne dass die Republikaner etwas unternähmen, trügen sie einen “größeren Schmutzfleck in diesem dunklen Moment in der amerikanischen Geschichte” davon.

Ryan für neue Sanktionen gegen Russland

Noch vor wenigen Wochen hatte sich Mitch McConnell geweigert, im Senat über ein Gesetz abstimmen zu lassen, das es Trump unmöglich macht, Sonderermittler Mueller eigenhändig zu entlassen. Doch nach dem öffentlichen Schulterschluss mit Putin gab es jetzt unter Konservativen erste Anzeichen für Handlungsbereitschaft. Paul Ryan, Sprecher der Republikaner im Repräsentantenhaus und damit die Nummer zwei der Partei, stellte am Dienstag neue Sanktionen gegen Russland in Aussicht. Die USA müssten den “abscheulichen” Attacken Russlands auf die Demokratie ein Ende bereiten. “Wir müssen die Schrauben enger ziehen”, stimmte der Senator John Cornyn aus Texas zu.

Nicht alle halten die Äußerungen für Zeichen eines Sinneswandels. Der Gipfel in Helsinki werde die Dynamik der vergangenen 18 Monate nicht dauerhaft verändern, glaubt der Politikwissenschaftler und Wahlexperte Steffen Schmidt von der Iowa State University. “Die Republikaner werden darauf hoffen, dass sich die Lage so schnell wie möglich normalisiert.”

Der Freedom Caucus, der konservative Flügel der Partei im Repräsentantenhaus, eilte dem Präsidenten am Dienstag bereits zur Hilfe. Nicht nur lobten die Mitglieder ihn für das Treffen mit Putin. Sie hatten auch einen Schuldigen für das Chaos zur Hand. Die Fragen der Journalisten in Helsinki, so der Abgeordnete Andy Biggs, seien “wirklich merkwürdig” gewesen. “Wenn es gerade Landesverrat gibt, dann sind es die Versuche, Misstrauen in unseren Präsidenten zu säen.”

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