The Exhausted Nation

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Die erschöpfte Nation

Es ist kein gutes Zeichen für die Demokratie, dass in der letzten Zeit so oft Winston Churchill zitiert wird. “Die Demokratie”, hat er ja gesagt, sei die schlechteste aller Staatsformen. “Ausgenommen alle anderen.” Es ist traurig genug, dass die Vorzüge der Demokratie vor allem darin bestehen sollen, dass alles andere noch schlimmer wäre. Aber dass das auch noch ständig betont werden muss, spricht nicht für den Zustand der Demokratie.

Es ist kein Wunder: Die mächtigste Demokratie der Welt versinkt im Chaos; Pandemie, Proteste, Unruhen und die schwerste Rezession der letzten Jahrzehnte geben den Amerikanern in diesen Tagen das Gefühl, als würden sie – wie es ein demokratischer Senator ausdrückte – die Spanische Grippe von 1918, die Große Depression nach 1929 und die Unruhen von 1968 zur selben Zeit erleben.

Die doppelte Krise der Demokratie

Dass die westliche Demokratie in der Krise steckt, ist nicht neu, seit Längerem verliert sie an Zustimmung, sie wird von innen und außen bedroht, es gibt strukturelle Mängel und Reformbedarf. Doch die jetzige Krise der amerikanischen Demokratie geht weit darüber hinaus. Es ist eine doppelte Krise: Der Verlust an Vertrauen in den Rechtsstaat, der sich in den Protesten ausdrückt, fällt zusammen mit einem Angriff auf die Demokratie aus dem Zentrum der Macht, wie es sie in der Geschichte der amerikanischen Demokratie noch nie gegeben hat: Donald Trumps Ankündigung, die Präsidentenwahl nicht anzuerkennen, falls er sie verliert. Nie zuvor hat ein US-Präsident seinem Land mit einem Coup gedroht.

Schon seit Längerem sinkt in den USA das Vertrauen in eine Demokratie, die es in den mehr als 150 Jahren nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs nicht geschafft hat, den Rassismus im Land zu überwinden, in einen Rechtsstaat, der für Afroamerikaner nicht funktioniert, und in ein politisches System, das nicht verhindern konnte, dass die soziale Ungleichheit immer weiter wächst. Ohne ein gewisses Maß an Gerechtigkeit verliert die Demokratie ihre Legitimität.

Hinzu kommen all die Mängel des politischen Systems, die seit vielen Jahren offensichtlich sind: ein Wahlsystem, das viele Präsidenten gegen die demokratische Mehrheit ins Amt bringt, das “Gerrymandering”, also der manipulative Zuschnitt der Wahlkreise, die absurde Bedeutung der Swing States, Geld als Voraussetzung für eine erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur, die Macht der Politclans von den Kennedys bis zu den Clintons. Und schließlich das Ergebnis: Niemand würde wohl behaupten, dass die amerikanische Demokratie in den letzten Jahrzehnten von Ronald Reagan bis Donald Trump die Besten, die Fähigsten des Landes an die Macht gebracht hat – schon allein deshalb, weil nie eine Frau dabei war.

Trumps Drohung

All diese Schwächen galten bisher als Unzulänglichkeiten einer Demokratie, die – mit Churchill – immer noch besser war als alles andere. Doch nun setzt gleichzeitig Trump zum Schlag gegen das Herz der Demokratie an: die Präsidentenwahl. Ob er es tatsächlich wagen würde, das Wahlergebnis im Falle seiner Niederlage anzufechten, ob seine Partei ihm folgen würde, ob der Supreme Court, das oberste Gericht, sich wirklich auf seine Seite stellen würde – das ist alles Spekulation. Aber schon das ständige Reden über gefälschte und illegitime Wahlen untergräbt weiter das Vertrauen in die Demokratie.

Angeheizt wird das durch die Bürgerkriegsrhetorik, mit der Trump die Unruhen begleitet.

Sie ist eine Drohung. Trump könnte, so wie es aussieht, Amerika vor die Wahl stellen: Ich oder das Chaos. Druck, Diffamierung und Einschüchterung kennen Trumps Gegner in der Politik und den Medien seit Langem. Aber das hier hat eine neue Qualität: Wenn die Legitimität von Wahlen nicht mehr anerkannt wird, wird der Kampf um die Demokratie möglicherweise mit Gewalt ausgetragen werden. Wenn nicht mehr Wählerstimmen über die Macht entscheiden, dann tun es Waffen.

Wenn die mächtigste Demokratie der Welt in die Krise gerät, hat das Folgen weit über die USA hinaus. Die unmittelbare Konsequenz ist, dass die Gegner der Demokratie weiter Auftrieb erhalten. Trump liefert ihnen gerade doppelt Unterstützung. Der US-Präsident dient von Jair Bolsonaro über Viktor Orbán bis zu Rodrigo Duterte all jenen als Vorbild, die selbst gern ein bisschen autoritärer regieren wollen. Zugleich liefert er denen, die offen ein autoritäres Gegenmodell propagieren, reichlich Argumente: Für die chinesische Propaganda ist das Chaos in den USA ein Geschenk. Für sie ist es der beste Beleg für das Versagen der westlichen Demokratie und die Überlegenheit des chinesischen Modells. Ganz zu schweigen davon, dass Trumps Aufrufe zu hartem Durchgreifen gegen die Unruhen in den Augen Pekings den Einsatz chinesischer Sicherheitskräfte rechtfertigen dürften: von Tiananmen vor mehr als 30 Jahren bis zu einem möglichen künftigen Durchgreifen in Hongkong.

An der Spitze nur alte Leute

Die Stärke der westlichen Demokratie lag bisher darin, dass es ihr immer wieder gelungen ist, sich zu erneuern, sich gesellschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Das galt in den letzten 200 Jahren auch für die amerikanische Demokratie.

Doch dazu schienen den USA in den letzten Jahren die Kraft zu fehlen. Nun wirkt es fast wie ein Symbol, dass beide Bewerber um die Präsidentschaft die Pensionsgrenze längst überschritten haben und auf die achtzig zugehen. Die Oppositionsführerin im Repräsentantenhaus Nancy Pelosi hat dieses Alter sogar schon erreicht. “Wir sind eine erschöpfte Nation”, sagte Joe Biden dieser Tage. Die amerikanische Gerontokratie weckt ungute Erinnerungen an die Sowjetunion der frühen Achtzigerjahre. Das könnte darauf hindeuten, wie schwer die Auseinandersetzungen und wie tief die Veränderungen sein werden, die bevorstehen.

Aber Amerikas Krise hat auch eine jüngere, kraftvolle Generation von Gouverneuren und Abgeordneten ins Blickfeld gerückt, sie mobilisiert Widerstände – bis in Trumps Umfeld hinein. Das lässt hoffen. Doch die Anhänger der Demokratie werden kämpfen müssen, vielleicht auch mit Mitteln, die sie eigentlich ablehnen. Und am Ende dieses Kampfes wird die Demokratie eine andere sein.

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