The Forgotten Parts of America

 

 

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Vor Langem begann der Abstieg des industriellen Kernlands der USA. Die Bürger dort wählten Trump zum Präsidenten. Selbst wenn er abgewählt wird, bleibt der Frust – und wird seine Nachfolger beschäftigen.

Also sprach der nun mächtigste Mann der Welt: “Die vergessenen Männer und Frauen unseres Landes werden nicht länger vergessen sein. Alle hören euch jetzt zu.” Es war eine große Passage in Donald Trumps Rede zur Amtseinführung im Januar 2017. Klassischer Populismus, klar, aber in der Sache lag er nicht ganz falsch.

Es gibt weite Landstriche in Amerika, die in der Wahrnehmung der Nation praktisch keine Rolle spielen. In den großen Medien kommen sie allenfalls am Rande vor. Die populäre Kultur ignoriert sie weitgehend. Ausländische Korrespondenten verirren sich nur selten dorthin. Das Bild, das Amerika von sich preisgibt, wird von den überwiegend wohlhabenden Regionen an der Ost- und der Westküste bestimmt: von Boston bis Miami am Atlantik und von Seattle bis San Diego am Pazifik. Dazwischen liegt eine weite Landmasse, die häufig übersehen wird, vielleicht auch “vergessen”, wie Trump formulierte.

Fly-over country nennen Amerikaner diese Gegenden. Nach Trumps Wahl suchten einige Reporter nach Erklärungen für diesen ungeheuerlichen Unfall der Demokratie und begaben sich aufs Land – exotische Exkursionen. Doch diese Suche ist weitgehend eingestellt. Inzwischen geht es in Berichterstattung wieder vor allem um Trump als Person: der präpotente Präsident als Faszinosum.

Verstellter Blick

Der Fokus auf die Metropolen an den Küsten und deren Führungspersonal verstellt den Blick auf den wahren Zustand eines Landes, das in weiten Teilen erhebliche gesellschaftliche Erschütterungen hinter sich hat. Der Frust und die Aggressionen, die in den vergangenen Jahren die Politik ergriffen haben, folgen aus einer langen Vorgeschichte.

Die Mitte ist ausgedünnt

Das Epizentrum dieser Entwicklung sind die alten Industrieregionen südlich der Großen Seen. Der Mittlere Westen erlebt seit den Achtzigerjahren eine Deindustrialisierung, die inzwischen weit fortgeschritten ist. Es ist nicht so, dass im “Rostgürtel” die Wirtschaft stillsteht. Aber die alten Strukturen sind über die Jahre schneller weggebrochen, als dass neue entstanden wären.

Viele anständig bezahlte Industriearbeitsplätze, die halbwegs sichere Beschäftigungsperspektiven boten, mit Krankenversicherung und Rentenansprüchen, sind verschwunden. Neue Jobs entstanden für Hochqualifizierte und für Billigjobber. Die Mitte ist ausgedünnt.

Rund 60 Millionen Menschen leben in dieser Gegend. Sie entsenden immer noch einen beträchtlichen Teil der Kongressabgeordneten nach Washington. Präsidentschaftswahlen entscheiden sich nicht zuletzt in Staaten wie Ohio, Wisconsin, Pennsylvania oder Michigan.

2016 waren es insbesondere die Wahlmänner aus dem Mittleren Westen, die Trump zum 45. US-Präsidenten wählten. In den derzeitigen Umfragen liegt Herausforderer Joe Biden zwar in vielen Rostgürtel-Staaten vorn. Aber vielerorts ist seine Führung denkbar knapp. Erwartungsgemäß hat Trump mit seinem protektionistischen Kurs die angekündigte Reindustrialisierung keineswegs eingeleitet, sondern Investitionen verhindert – und viele Jobs unsicherer gemacht. Ob Biden von Trumps Fehlern am Wahlabend tatsächlich profitieren kann, ist ungewiss. Vielleicht geben viele der abermals Enttäuschten auch einfach keine Stimmen mehr ab.

Verzerrtes Bild aus Europa

Außerhalb des Mittleren Westens wurden die Krisensymptome lange kaum zur Kenntnis genommen. Das europäische Bild der amerikanischen Wirtschaft prägten in den Neunzigerjahren die IT-Firmen der Westküste, in den Zweitausendern die Finanzriesen der Wall Street, in den Zweitausendzehnern die Daten-Giganten des Silicon Valley. Ein Pingpongspiel zwischen Ost- und Westküste. Was in den Weiten dazwischen geschah, war kaum von Interesse.

Gerade wir Europäer haben die USA vor allem als Herausforderung wahrgenommen – wahlweise als Gegner oder als Vorbild – und dabei gern ihre widersprüchliche Komplexität übersehen.

In den Zweitausendern und frühen Zweitausendzehnern war ich immer wieder als Reporter für das manager magazin in den USA unterwegs, gerade auch im Mittleren Westen. Ich traf mich mit Gouverneuren und Bürgermeistern, mit Topmanagern und Firmengründern sowie mit vielen ganz normalen Leuten. Ich schaute mich um an Orten wie Canton (Ohio), Milwaukee (Wisconsin), Lansing (Michigan) oder Indianapolis (Indiana). Es war frappierend, wie stark sich das Bild vor Ort von dem unterschied, was damals bei uns über die USA berichtet wurde.

Lebhaft in Erinnerung ist mir eine Begegnung mit Janet Creighton im Sommer 2006. Sie war damals Bürgermeisterin von Canton. Eine Studie des Thinktanks Brookings hatte gerade vorgerechnet, dass keine andere Metropolregion in den USA größere Verluste an Industriejobs verkraften musste als ihre Stadt. Doch die Bürgermeisterin war eine stramme Republikanerin, Anhängerin des damaligen Präsidenten George W. Bush und der festen Überzeugung, dass eine Gesundung ihrer Stadt – und des Landes überhaupt – vor allem von den Bürgern selbst ausgehen müsse.

“Wir sind eine faule Gesellschaft geworden”, sagte Creighton. Sie stand am Fenster ihres Büros und deutete hinunter auf ihre Stadt. Hier war sie aufgewachsen, hier hatte sie ihr ganzes Leben verbracht. “Viele Leute haben immer noch nicht verstanden, dass das Industriezeitalter vorbei ist, dass ihnen ihre Arbeitgeber nicht mehr alles abnehmen, dass sie sich selbst um ihre Ausbildung kümmern müssen.” Es sei schrecklich. Sie könne das Gejammer wirklich nicht mehr hören.

Und dann brach aus Creighton, die als republikanische Calvinistin erzogen wurde, eine kleine Predigt hervor: “Natürlich ist die Lage nicht einfach, und es wird lange dauern, bis wir über den Berg sind, aber die Leute wollen doch nur jemanden für ihre Lage verantwortlich machen. Schauen Sie mich an: Ich habe keinen Collegeabschluss, ich habe mit 18 mein erstes Kind bekommen, dann noch eins, bin geschieden worden, habe zwei Jobs parallel gehabt, um meine Kinder durchzubringen. Ich weiß genau, in welcher Lage diese Leute sind. I walked in their shoes.” Also reißt euch zusammen! Das war ihre Botschaft.

Das Gespräch fand im Herbst 2006 statt. (Den Artikel können Sie hier nachlesen.) Das Platzen der Immobilienblase kündigte sich bereits an. Dann ging es Schlag auf Schlag. 2007 begann zunächst schleichend die Finanzkrise. In New York erlebte ich Finanzmanager, die zu der Meinung gekommen waren, Amerika spüle sich gerade selbst “die Kanalisation hinunter”.

Ein Jahr später traf ich für eine andere Story die damalige Gouverneurin von Michigan, Jennifer Granholm, eine aristokratisch wirkende Demokratin. General Motors, Ford und Chrysler, alle in ihrem Bundesstaat beheimatet, taumelten bereits am Rande der Pleite. Wir führten ein langes Gespräch über diese tiefste Krise der Nation seit Generationen. Am Ende sagte sie diesen sehr amerikanischen Satz: “Ich habe genug von all dem Gerede über Untergang und Trübsinn – es ist Zeit, dass etwas Neues beginnt.”

Die Zeiten wurden härter

Kurz darauf brach die Investmentbank Lehman Brothers zusammen. Die Finanzkrise nahm ihren Lauf. Die Zeiten wurden noch härter, gerade im industriellen Herzland der USA.

Doch zugleich begann tatsächlich etwas Neues: Im Herbst jenes Jahres wählte eine Mehrheit den liberalen Pragmatiker Barack Obama zum Präsidenten. Ein Demokrat, kein alter weißer Mann, und dazu noch einer, der so schön predigen konnte von “Hope” und “Change”.

Auf der Rechten erstarkte damals die Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikanischen Partei. Die klassischen Konservativen gerieten ins Hintertreffen. Die Grand Old Party begann zu zersplittern. Die Tea-Party-Bewegung vermittelte einen ersten Eindruck davon, mit welcher Vehemenz Rechtspopulismus das Establishment aufmischen kann – und wie er die Vernunft in der politischen Auseinandersetzung vernebeln kann.

2010 spielte Mitch Daniels, damals Gouverneur von Indiana, mit dem Gedanken, bei den republikanischen Vorwahlen anzutreten. Er war ein klassischer gemäßigter Republikaner: nüchtern, unideologisch, ergebnisorientiert, fiskalisch konservativ, ein ehrlicher Arbeiter für den Wirtschaftsstandort Indiana. Ein Anti-Trump. Wir saßen zwei Stunden in seinem Büro zusammen. Es war ein heißer Septembertag.

Wäre Daniels angetreten, hätte die Geschichte womöglich einen anderen Lauf genommen. Wer weiß. Er entschied sich schließlich dagegen, wohl auch, weil Obama zu populär und die US-Politik bereits damals derart polarisiert waren, dass kaum etwas voranging. Im Kongress hatten Republikaner und Demokraten die Zusammenarbeit weitgehend eingestellt. 2012 kandidierte dann Mitt Romney gegen Obama und verlor – eine Niederlage, die schlussendlich den Weg für Donald Trump ebnete.

Auf einer dieser Recherchereisen vor mehr als einem Jahrzehnt traf ich in Washington Grant Aldonas, einen traditionellen konservativen Wirtschaftspolitiker. In der ersten Amtszeit von George W. Bush hatte er als Staatssekretär gedient. “Was wir momentan erleben, das geht an den Kern unserer Identität”, sagte er. “Und das Seltsame ist: Keine der Parteien schafft es, diese Ängste aufzunehmen und in politische Programme zu übersetzen.”

Es war alles für Trump bereitet: die Themen, der Frust, die Aggressionen, die beginnende Polarisierung. Wir hätten auf den Populisten-Präsidenten vorbereitet sein können.

Nach Trump

Trump gelang es, 2016 die Wahl zu gewinnen, nicht nur weil er ein TV-Promi und ruchloser Populist war und ist, sondern auch weil er all die negativen Gefühle aufnahm und in einfache, aggressive Slogans packte.

Schon in den Zweitausendern waren China und Mexiko als Feindbilder durch die Debatten gegeistert. Man wähnte sich in Abwehrgefechten in einem “Krieg gegen die Mittelschicht”. Im Kongress wurde ein Gesetzentwurf vorbereitet mit dem Ziel, Zölle auf chinesische Importe zu erheben, um amerikanische Industriejobs zu schützen. George W. Bushs Regierung versprach, einen 1000 Kilometer langen Zaun entlang der mexikanischen Grenze zu bauen, um illegale Einwanderer abzuwehren.

All diese Themen waren bereits zehn Jahre vor Trumps Amtsantritt in der Debatte. Wir hätten gewarnt sein sollen. Es brauchte nur einen Kandidaten, der sie ohne jeden Skrupel aufnahm. Ein Konzept, ein Plan, eine Strategie schienen überflüssig. Ein paar Versatzstücke genügten, immer und immer wieder in Reden, Interviews, Tweets wiederholt und emotional aufgeladen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Joe Biden könnte ein besserer US-Präsident werden: organisiert, gut beraten, milder im Ton, international kooperationsbereit. Doch wir sollten uns keinen Illusionen hingeben: Wie die Dinge im stimmenträchtigen Herzland der USA nun mal liegen, würde er in vielen Punkten substanziell kaum andere Positionen einnehmen können als Trump.

Protektionistische Handelspolitik, verminderte US-Militärpräsenz in Europa (samt der Debatte über unsere Verteidigungsbeiträge zur Nato), restriktive Zuwanderungspolitik – all das wird bleiben. Egal, wer die Wahl am 3. November die Wahl gewinnt.

Wir sollten vorbereitet sein.

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