Toxische Wortklauberei
Soll sich Europa unabhängig von den USA machen, wie Macron sagt – oder sich ihnen stärker zuwenden, wie es Kramp-Karrenbauer will? Tatsächlich entscheidet sich die Zukunft der EU an etwas anderem.
Stellen Sie sich die folgende Szene vor: Um seinen ersten Besuch in Europa vorzubereiten, fragt der überzeugte Transatlantiker Präsident Joe Biden seine Europa-Berater, worüber die Europäer gerade außenpolitisch diskutieren. »Sie diskutieren darüber, wie unabhängig sie von uns sein wollen« – antwortet der Berater. »Ah – und was tun sie?« – »Sie debattieren, Herr Präsident!« – »Entschuldigung, Sie haben mich falsch verstanden, ich meinte, was bereiten sie vor – welche politischen Vorschläge liegen auf dem Tisch?« – »Sie… debattieren, Herr Präsident…« »Ah – vielleicht verschiebe ich meinen Besuch in Paris, Berlin und Brüssel, bis sie zu einem Ergebnis gekommen sind?«
Schlagworte ohne viel Inhalt
Der jüngste Streit zwischen dem französischen Präsidenten und der deutschen Verteidigungsministerin darüber, ob Europa seinen Weg mit den USA oder ohne sie gehen soll, ist der jüngste Höhepunkt einer seit Langem tobenden Schlacht der Narrative.
Seit mehr als vier Jahren debattiert Europa über seinen Platz in der Welt, und zwar auf der Grundlage klangvoller, aber oft inhaltsleerer Begriffe: Es begann mit »strategischer Autonomie«. Der Begriff steht zwar in der außenpolitischen Strategie der Europäischen Union, wurde aber schnell toxisch. Denn er kam aus der französischen Debatte, und so befürchteten insbesondere die Mitteleuropäer ein französisches Komplott, das sie von der Nato und den USA abbringen sollte. Andere versuchten, mit dem neuen Schlagwort »europäische Souveränität« die Diskussion an sich zu reißen. Das wird nun auf aktuelle Themen der internationalen Politik übertragen, sei es digitale Souveränität, technologische oder militärische. Der letzte Höhepunkt im Überbietungswettbewerb der Narrative ist »strategische Souveränität«. Und so wird die ursprünglich gut gemeinte Debatte über den Platz der EU in der Welt zu einem Buzzword-Bingo, in dem die Schönheit des Begriffs mehr zu zählen scheint als Inhalte und praktische Umsetzung. Mittlerweile bekommt dieser Streit fast religiöse Züge: Wer Souveränität oder Autonomie sagt, ist Europäer – wer das nicht tut, ist Transatlantiker. Als ob die beiden sich ausschließen würden.
Narrative, die Politik verhindern
Man kann sich nur wünschen, dass diese Begriffsschlacht bald endet. Aber selbst dann – was würde es für die Handlungsfähigkeit Europas bedeuten – also die Fähigkeit Europas, politisch, militärisch oder wirtschaftlich seine Prioritäten zu definieren, zu vertreten und sein Umfeld zu gestalten? Tatsächlich steht hinter keinem der Begriffe ein ausbuchstabiertes politisches Programm. Dabei müsste mittlerweile klar sein, dass, egal ob man sich als Europäer oder als Transatlantiker bezeichnet (oder beides), Europa in allen Bereichen mehr tun muss: Es braucht digitale, wirtschaftliche, technologische und militärische Gestaltungs- und Verhandlungsmasse, damit Europa zum Spieler wird – nicht zum Spielball. Diese Masse sieht ganz unterschiedlich aus: vom technologischen Innovationssystem über die Möglichkeit, die Transportwege für Waren, aber auch das globale Gemeinschaftsgut der freien Seefahrt selbst zu sichern, einen Gegner von einem Angriff abzuhalten, weil er ihn nicht gewinnen kann, bis hin zur Kontrolle von Investitionen in kritische Infrastrukturen.
Doch die derzeitige Narrativ-Debatte verhindert, dass Europa diese viel wichtigere Diskussion über konkrete Politik, über Budgets und andere Instrumente führt.
Abhängigkeiten anerkennen
Es gibt noch einen Grund, der die Europäer davon abhält, den Schritt von der Debatte hin zu greifbarer Politik wirklich zu gehen: Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs Ernst machen würden, zum Beispiel mit Entscheidungen für eine europäische Verteidigung, dann müssten sie sich eingestehen, dass das Gerede über die wiederkehrende Macht der Nationalstaaten ein Mythos ist.
Tatsächlich haben in den letzten Jahren viele EU-Länder den starken Staat beschworen, der seine Bürger schützt und deren Probleme löst. Europa und Kooperation waren zweitrangig. Das Bild vom starken Staat ist in Zeiten einschüchternder internationaler Komplexität, vom Klimawandel über geopolitische Instabilität bis Pandemie sicherlich reizvoll. Es sind aber genau diese existenziellen Herausforderungen, die klarmachen, dass kein Nationalstaat für sich allein die Risiken kontrolliert und seine Bevölkerung schützen kann. So kommt schmerzhaft die alte Erkenntnis zurück: Die europäischen Staaten sind voneinander abhängig, und nicht nur das, sie sind es zunehmend auch von nichteuropäischen Akteuren. Sie müssen also zurückkehren zur zähen und wenig glanzvollen Kärrnerarbeit, um europäische Zusammenarbeit auf die Beine zu stellen.
Eine Agenda für politisches Handeln
Die ultimative Aufgabe von Politik ist Handeln. Regierungen müssen die Probleme ihrer Bürger lösen, sonst delegitimieren sie sich schnell. Egal, ob man die Debatte über Autonomie und Souveränität wichtig findet – Europa steht vor realen internationalen Problemen.
Was für erfolgreiche Politik getan werden muss, ist auch klar: Europa muss seine Abhängigkeiten kontrollieren (etwa von Rohstoffen), Verwundbarkeiten minimieren (etwa bei der digitalen Infrastruktur) und sich so aufstellen, dass es Konflikte nicht verliert (etwa mit Russland oder China). Dafür brauchen die Europäer das notwendige Handwerkszeug. Im digitalen Bereich und im Handel kann Europa mithilfe von internationalen Standards Einfluss nehmen. Im Bereich Sicherheit und Verteidigung erlauben zum Beispiel konventionelle und Cyberfähigkeiten den Europäern, ihre Vorstellungen umzusetzen.
Solche Potenziale machen Europa zu einem Akteur, mit dem andere zusammenarbeiten wollen, weil man mit Europa etwas erreichen kann. Anders formuliert: Man kann es sich nicht leisten, Europa gegen sich zu haben.
Diese europäische Macht resultiert vor allem aus der Zusammenarbeit, zuallererst unter Europäern, aber auch mit anderen Partnern, ausdrücklich auch den USA. Denn Europas Fähigkeit, diese Kapazitäten aufzubauen, ist begrenzt. Deshalb besteht ein weiterer Teil einer Agenda des Handelns darin, der gegenwärtigen Autonomie-Wunschliste den politischen und finanziellen Preis gegenüberzustellen, den Europa dafür zahlen müsste. Dann werden die Europäer entscheiden müssen, in welchen Bereichen sie Prioritäten setzen und investieren wollen, um ihre Abhängigkeit von Partnern zu verringern, aber auch, wo sie Abhängigkeiten bewusst eingehen und welche Risiken sie deshalb akzeptieren müssen.
Dieses politische Programm sollte auf der Agenda für den ersten Besuch des neuen US-Präsidenten stehen, nicht das schönste Narrativ. Europa sollte den USA nicht blindlings um den Hals fallen – manchmal werden sie Partner sein, manchmal Konkurrenten. Aber Europa sollte schon jetzt über die Zeit nach diesem Präsidenten nachdenken. Deshalb hat es ein großes Interesse an bestmöglichen Beziehungen zu den USA. Es bleibt zu hoffen, dass der gewählte US-Präsident bald von Europa etwas über konkrete Politik hört und nicht nur über schöne Begriffe.
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