Die gewaltsame Besetzung des Kapitols war kein Terrorismus – jedoch ein Vorgeschmack davon. Für Amerika sind radikalisierte Anhänger von QAnon in den nächsten Jahren eine große Gefahr.
Jeder Terrorismusforscher weiß, dass terroristische Gruppen nicht vom Himmel fallen. Sie entstehen meist aus größeren, radikalen Bewegungen, die es nicht schaffen, ihre Überzeugungen auf friedliche Weise durchzusetzen.
In Amerika hat sich seit 2017 eine solche Bewegung gebildet, die mittlerweile über eine Million Anhänger hat – darunter Reichsbürger (sogenannte Sovereign Citizens), Rassisten, Mitglieder von Bürgermilizen, fundamentalistische Christen und konservative Unterstützer von Donald Trump.
Was sie eint, ist keine herkömmliche politische Ideologie, sondern eine Verschwörungstheorie, nach der Amerika von einem Netzwerk von Satanisten und Kinderschändern regiert wird, gegen das Trump einen geheimen Krieg führt. Ihr Schöpfer ist ein angeblicher Regierungsinsider, der im Internet Botschaften veröffentlicht und sie mit dem Buchstaben Q unterschreibt – daher die Bezeichnung QAnon.
Was die Bewegung gefährlich macht, ist ihre totale Ablehnung des politischen Systems. Für Anhänger von QAnon sind einzig Trump und seine engsten Vertrauten legitim. Der restliche Staatsapparat besteht aus Volksfeinden, mit denen kein Kompromiss möglich ist.
Sie kündigen den »Tag der Abrechnung« an
Trump hat die Bewegung angestachelt, sie aber gleichzeitig im Zaum gehalten. Solange er an der Macht war, konnten QAnon-Anhänger darauf hoffen, dass sein angeblicher Krieg gegen den »tiefen Staat« Erfolg haben würde. Q kündigte immer wieder einen »Tag der Abrechnung« an, an dem der Präsident seine Gegner verhaften und ihnen der Prozess machen würde.
Doch nach Trumps Wahlniederlage gibt es keinen Präsidenten mehr, der den vermeintlichen Krieg von höchster Stelle steuert, was heißt: Für die Anhänger der Bewegung entsteht eine völlig neue Situation.
Die gewaltsame Besetzung des Kapitols war ein (letzter) Versuch, die Machtübernahme von Joe Biden zu verhindern. Unmittelbare Folge ist, dass sich gemäßigte Konservative von QAnon abwenden. Sie wollen keinen Bürgerkrieg, und die tragischen Konsequenzen der Aktion – fünf Menschen kamen bei ihr zu Tode – haben sie abgeschreckt. Als (Massen-)Bewegung wird QAnon in den kommenden Monaten nicht wachsen, sondern schrumpfen.
Doch die Gefahr, die von ihr ausgeht, wird dadurch nicht geringer. Denn für eine Minderheit geht es jetzt ums Ganze. Ab dem 20. Januar gibt es keinen Grund mehr sich zurückzuhalten. Ohne Trump fällt der Staatsapparat komplett in Feindeshand. Die Verfolgung »amerikanischer Patrioten« wird nicht ab-, sondern zunehmen. Nicht zuletzt: Mit dem Tod einer QAnon-Anhängerin aus Kalifornien, die beim Sturm aufs Kapitol erschossen wurde, hat die Bewegung ihre erste »Märtyrerin«, deren Opfer gerächt werden muss.
Terroristische Bedrohung
Die terroristische Bedrohung, die sich hieraus ergibt, wird in den nächsten Jahren größer und gefährlicher sein als die von Dschihadisten. Dafür gibt es mindestens vier Gründe:
Erstens hat die Bewegung mehr Unterstützer als ISIS oder al-Qaida. Selbst wenn von einer Million QAnon-Unterstützern nur ein Prozent gewaltbereit sind, wären dies 10.000 Gefährder. Verglichen damit ist die Anhängerschaft der Dschihadisten vergleichsweise klein: In den vergangenen zwanzig Jahren wurden in Amerika insgesamt nur knapp 500 Personen wegen Unterstützung dschihadistischer Gruppen angeklagt.
Zweitens ist QAnon schwer bewaffnet. Viele Anhänger der Bewegung sind bei Bürgermilizen aktiv. Der zweite Verfassungszusatz, der Amerikanern das Recht garantiert, Waffen zu besitzen, ist für sie das wichtigste Grundrecht. Über dschihadistische Milizen ist dagegen nichts bekannt. Nur wenige der 500 Dschihadisten, die wegen Terrorismus vor Gericht standen, hatten eine militärische Ausbildung oder galten als Waffennarren. Viele scheiterten dabei, funktionierende Sprengsätze zu bauen.
Drittens kann QAnon auf viel breitere Unterstützung in der Bevölkerung zählen. Auch wenn sich die meisten Konservativen niemals beteiligt hätten, äußerten laut aktuellen Umfragen 20 Prozent der Republikaner für den Sturm aufs Kapitol Verständnis. Selbst in der Politik gibt es Sympathisanten: Ein Dutzend republikanische Mandatsträger hat bei der Besetzung mitgemacht, mehrere Abgeordnete verteidigten sie auf Fox News, und der Justizminister aus Alabama half dabei, sie zu finanzieren.
Viertens hat QAnon Militär und Polizei infiltriert. Auch hier gibt es noch keine genauen Zahlen, doch unter den Randalierern im Kapitol waren nach verschiedenen Berichten mindestens ein Dutzend aktiver Soldaten. Die Polizei in Seattle hat mehrere Beamten wegen Beteiligung an der Besetzung suspendiert. Für Experten ist dies keine Überraschung: Sie warnen seit Jahren davor, dass rechtsextreme Gruppen das Militär und die Polizei aktiv unterwandern.
Hinzu kommt: Während amerikanische Regierungen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 Milliarden Dollar investiert haben, um Dschihadisten zu bekämpfen, wurden die Mittel für die Bekämpfung des Rechtsextremismus in den letzten Jahren massiv gekürzt. Im Heimatschutzministerium und bei der Polizeibehörde FBI fehlt es an Wissen und Personal, um der neuen Bedrohung effektiv zu begegnen.
Der Sturm aufs Kapitol war deshalb kein Schlusspunkt, sondern spektakulärer Auftakt einer massiven terroristischen Bedrohung, die Amerika noch Jahre beschäftigt wird.
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