Zählen Schwarze Leben jetzt mehr?
In Minneapolis beginnt der Prozess gegen den Polizisten, der mutmaßlich den Schwarzen George Floyd ermordete. Was die Black-Lives-Matter-Bewegung seitdem erreicht hat.
Rund um das Hennepin County Courthouse stellen Bauarbeiter in diesen Tagen hohe Zäune mit Stacheldraht auf. 2.000 Nationalgardisten und 1.100 Polizisten sollen den Komplex in der Innenstadt von Minneapolis sichern. Hier beginnt am Montag der Prozess gegen den ehemaligen weißen Polizisten Derek Chauvin, der im vergangenen Mai bei einer Festnahme knapp neun Minuten lang auf dem Genick des Schwarzen George Floyd kniete und damit mutmaßlich dessen Tod verursachte.
Die auf Video dokumentierte brutale Szene löste Proteste im ganzen Land aus und führte zu einer breiten Debatte über Polizeigewalt und Rassismus in den Vereinigten Staaten. Minneapolis befand sich wochenlang im Ausnahmezustand. Demonstranten brannten eine Polizeiwache ab, es kam zu Einsätzen der Nationalgarde.
Derek Chauvin wird unter anderem des Mordes zweiten Grades angeklagt. Ein Schuldspruch zöge nach den Richtlinien des Bundesstaats Minnesota eine Freiheitsstrafe von zwölfeinhalb Jahren nach sich. Die Verteidigung argumentiert dagegen, dass Floyds Tod durch Drogenkonsum und eine Herzerkrankung verursacht worden sei. In den kommenden Wochen wird zunächst die zwölfköpfige Jury für den Prozess ausgewählt.
Black-Lives-Matter-Aktivisten haben für den Montag Demonstrationen angekündigt. Nun befindet sich die Stadt Minneapolis erneut im Ausnahmezustand – und die Wunden, die die Tötung George Floyds in der US-amerikanischen Gesellschaft gerissen hat, beschäftigen erneut das ganze Land. Doch was ist in den USA geschehen, seit jenem 25. Mai 2020? Wie hat Black Lives Matter (BLM) das Land verändert?
Verbesserung der Polizeiarbeit
Nach den Unruhen in Minneapolis bildete sich eine nationale Solidaritätsbewegung. In mindestens 141 US-amerikanischen Städten demonstrierten Menschen für die Rechte von Schwarzen. Das Hashtag BlackLivesMatter wurde allein im vergangenen Juni mehr als 100 Millionen Mal bei Twitter verwendet. Im ganzen Land versammelten sich Bewegungen unter diesem Slogan, um Ungerechtigkeiten gegenüber Schwarzen zu thematisieren. Mit einigem Erfolg: In New York etwa gelang es der Bewegung, ihre zentrale Forderung, der Polizei Geld zu entziehen (“Defund the Police”) teilweise durchzusetzen – das Polizeibudget wurde von sechs auf fünf Milliarden Dollar pro Jahr gesenkt. Mehr als 100 Städte erließen zudem ein Verbot von Würgetechniken bei Festnahmen wie jener, die zu Floyds Tod führte. Zahlreiche Kommunen verpflichten Polizisten einzuschreiten, wenn Kollegen unangemessene Gewalt anwenden. Es sind kleine, aber wahrnehmbare Schritte.
Überhaupt scheint die Black-Lives-Matter-Bewegung, die es schon vor dem Tod Floyds gab, in den vergangenen Jahren zu einer Verbesserung der Polizeiarbeit geführt zu haben. Nach einer Studie der University of Massachusetts haben in den Gemeinden, in denen BLM-Proteste stattfanden, Polizeitötungen abgenommen, seit 2014 im Durchschnitt zwischen 15 und 20 Prozent. Die Basisarbeit der Aktivistinnen und Aktivisten scheint also an manchen Orten zu wirken.
Die Bewegung adressiert neben dem Thema Polizeigewalt eine Vielzahl weiterer Probleme, die das Leben schwarzer Menschen in den USA erschweren. Mit “Black-Votes-Matter”-Plakaten demonstrierten etwa Anfang November schwarze Aktivisten im Wechselwählerstaat Pennsylvania dafür, dass ihre Briefwahlstimmen in der Präsidentschaftswahl gezählt werden, während US-Präsident Donald Trump in Washington Wahlmanipulationsvorwürfe erhob. Wer mit schwarzen Aktivisten spricht, hört häufig, dass die Proteste im Sommer 2020 insgesamt zu einem neuen politischen Selbstbewusstsein in der schwarzen Minderheit geführt haben.
Derzeit beispielsweise kämpfen schwarze Beschäftigte eines Amazon-Versandlagers in Alabama für die gewerkschaftliche Organisation ihres Betriebs. Es wäre das erste Mal, dass Lagerarbeiterinnen des Versandriesen in den USA von Arbeitnehmerorganisationen vertreten würden. Weltweit berichten Medien über den historischen Arbeitskampf. Viele Organisatoren kannten sich von BLM-Demonstrationen im vergangenen Jahr, erzählte ein Gewerkschafter dem American Prospect. Getreu der alten Prinzipien der Bürgerrechtsbewegung, die eben nicht nur gegen Diskriminierung, sondern auch für sozioökonomische Rechte kämpfte, hat sich Black Lives Matter mehr und mehr zu einer ganzheitlichen Bewegung entwickelt.
Der Bund kann wenig Einfluss nehmen
Auch im US-Kongress hinterließen die Proteste ihre Spuren. Schon im Sommer 2020 verabschiedete das Repräsentantenhaus unter Führung der Demokraten den “George Floyd Justice in Policing Act”, ein Gesetz, das unter anderem rigidere Vorschriften für Gewaltanwendung von Polizisten der Bundesbehörden anordnete. Wegen der republikanischen Mehrheit im Senat und einer drohenden Blockade durch den damaligen Präsidenten Donald Trump, trat es jedoch nicht in Kraft. Der progressive Flügel der Demokraten hat das Thema Polizeigewalt allerdings nicht vergessen. Und so verabschiedete das Repräsentantenhaus das Gesetz am vergangenen Mittwoch erneut. Die Zustimmung im Senat ist zwar noch ungewiss, doch stehen die Chancen mit der neuen demokratischen Mehrheit und mit Joe Biden im Weißen Haus besser als noch im vergangenen Sommer.
Die Möglichkeiten des Bundes, Einfluss zu nehmen, sind ohnehin begrenzt. Die Bundesstaaten und Kommunen erlassen ihre eigenen Polizeigesetze. Die Bundesregierung in Washington kann lediglich Zuschüsse streichen und Ermittler entsenden – etwa wenn einzelne Polizeibehörden wegen Racial Profiling oder unangemessener Gewaltanwendung auffallen. Joe Biden hatte sich zudem bereits im Wahlkampf dagegen ausgesprochen, Polizeibudgets zu reduzieren. Der Rückhalt der Bewegung in der neuen US-Regierung wirkt nicht so verlässlich. Zwar inszenierten sich die Führungskräfte der Demokraten als Unterstützer der Bewegung und hielten gar mit einem traditionellen ghanaischen Schal bekleidet Schweigeminuten ab, doch mittlerweile ist es im Establishment der Demokraten ruhig geworden um das Thema Black Lives Matter.
Immerhin ist es bei der Wahl im November zum ersten Mal gelungen, eine BLM-Aktivistin der ersten Stunde in den Kongress zu bringen. Die Krankenschwester Cori Bush, die sich seit Jahren in der Bewegung engagiert, ist für die Stadt St. Louis in das Repräsentantenhaus eingezogen. Die 44-Jährige startete – wenn auch erfolglos – sogleich eine Initiative, Gefängnisinsassen ihr Wahlrecht zurückzugeben. Schwarze machen einen überproportionalen Teil der Gefängnisinsassen aus, die in vielen US-Staaten selbst nach Verbüßen ihrer Haftstrafe nicht wählen dürfen.
Fortschritte und Rückschritte
Die gescheiterte Gesetzesänderung zeigt, dass Black Lives Matter neben einigen Erfolgen auch Rückschläge zu verkraften hat. Während in einigen Städten Polizeireformen durchgeführt wurden, blieben andernorts Initiativen dafür erfolglos. In Minneapolis etwa entschloss sich nach der Tötung Floyds eine Mehrheit des Stadtrats, die dortige Polizei in ihrer jetzigen Form abzuschaffen. Wenige Monate später nahmen viele Lokalpolitiker ihre Versprechen allerdings zurück. Eine umfassende Polizeireform ist weiterhin nicht in Sicht. Für jeden kleinen Fortschritt scheint die Bewegung an anderer Stelle einen ebensolchen Rückschritt zu machen.
Das gilt auch für die sich wandelnde öffentliche Wahrnehmung der Bewegung. Das Thema Polizeigewalt dominierte monatelang die Berichterstattung und sorgte kurzzeitig dafür, dass viele US-Amerikaner begannen, sich mit der jahrhundertelangen Geschichte ethnischer Diskriminierung in ihrem Heimatland zu beschäftigen. Die Zustimmungswerte für die BLM-Bewegung stiegen nach der Tötung George Floyds zunächst rapide an. Doch mit der zunehmenden Politisierung der Bewegung in der Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Republikanern und vereinzelten Ausschreitungen sanken diese Zustimmungswerte wieder. Eine Umfrage von Pew Research dokumentierte im September, dass vor allem bei Weißen die Unterstützung stark abgenommen hatte. Während im Juni noch 60 Prozent der weißen Befragten angaben, BLM zu befürworten, waren es im September nur noch 45 Prozent. Auch unter Hispanics ging die Zustimmung zurück. Bei Schwarzen und Wählern der Demokraten blieb sie dennoch hoch.
Der nun beginnende Prozess in Minneapolis dürfte die Debatte über Rassismus und Polizeigewalt erneut entfachen – allerdings unter neuen politischen Prämissen. Die rechtsnationalistische Regierung von Donald Trump ist abgewählt, aus Washington sind nun liberale Töne zu hören. Zum ersten Mal ist eine schwarze Frau Vizepräsidentin und die Biden-Regierung scheint – zumindest rhetorisch – eine Aussöhnung der Ethnien zu verfolgen.
Der Prozess gegen Derek Chauvin könnte zwar dazu führen, dass die sich die Stimmung im Land nun wieder aufheizt, allerdings bietet das auch eine Chance. Ohne die spalterischen Kommentare eines Donald Trumps – und ohne gewaltsame Ausschreitungen freilich – wäre eine nüchterne Debatte über die Effekte von Rassismus und Polizeigewalt in den USA eher möglich.
Die Hauptverhandlung im Prozess gegen Derek Chauvin beginnt voraussichtlich Ende März und dürfte bis Ende April dauern. Es dürfte ein Prozess werden, der Minneapolis und das ganze Land stark emotionalisiert und je nach Ausgang eine der Seiten bitter enttäuscht. Wie Öffentlichkeit, Politik und Aktivisten mit dem Verfahren und dem Urteil umgehen, wird ein Gradmesser dafür sein, ob es gelingt, die Wunden der Vergangenheit zu heilen – oder aber, ob das Land erneut in Lagerkämpfe verfällt.
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