An Old White Man Is Picking Up Speed in America

 

 

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Ein alter weißer Mann macht Tempo in Amerika

Joe Biden beseitigt den Scherbenhaufen der Trump-Jahre, er setzt richtige Prioritäten. Nur seine Außenpolitik stößt ausgerechnet in Berlin auf höfliches Desinteresse.

Franklin Delano Roosevelt also, FDR. Allüberall wird der Vergleich gezogen zwischen dem wohl wirkungsmächtigsten amerikanischen Präsidenten der vergangenen hundert Jahre und dem neuen Mann im Weißen Haus. Joe Biden ist erst seit gut einem Vierteljahr im Amt und schon wird er in einem Atemzug genannt mit dem Erfinder des New Deal, der die Vereinigten Staaten in den Dreißigerjahren mit einem gigantischen staatlichen Aufbauprogramm aus der Großen Depression führte.

Bisschen viel der Ehre, auch ein bisschen früh. Das überschwängliche Lob für Biden (Der Spiegel: “Traumstart”) erinnert ein wenig an die übereilte Vergabe des Friedensnobelpreises an Barack Obama. Nun wird zu Recht auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Obama und dessen einstigem Vize hingewiesen: Joe Biden, der 1972 erstmals in den US-Senat einzog, bringt so viel politische Erfahrung in sein Amt mit wie kaum einer seiner Vorgänger. Er weiß, wie in Washington Politik gemacht wird, wie Pläne zu Gesetzen werden. Fünfzig Jahre ist er im Geschäft, ein heute 78 Jahre alter weißer Mann, der in Windeseile von Sleepy Joe zu Speedy Joe mutierte.

Biden beherrscht also das Handwerk, das ist schon mal nicht wenig. Und er setzt die Prioritäten richtig. Zunächst muss der Kampf gegen die Pandemie gewonnen werden. Da kommt Amerika gut voran: 220 Millionen Impfdosen in Bidens ersten hundert Tagen. Zweitens soll die Konjunktur angekurbelt werden. Drittens will der neue Präsident die Infrastruktur modernisieren, Millionen neue Jobs sollen so entstehen. Mit der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung des Landes soll auch der Glaube an die Überlegenheit der Demokratie zurückkehren, um – viertens – im Wettbewerb mit dem autoritär regierten China bestehen zu können.

Er macht Amerika verlässlicher

Das ist in der Tat ein Gesamtprogramm von Rooseveltscher Dimension. Und bei den finanziellen Summen, die Biden dafür vom Kongress fordert, wird es nicht nur den republikanischen Senatoren und Abgeordneten schwindlig. Zählt man alles zusammen – das Konjunkturpaket zur Überwindung der Pandemie (American Rescue Plan) und die Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Wissenschaft und Gesundheit (American Jobs Plan) –, landet man bei rund vier Billionen US-Dollar.

Das Geld dafür will Biden durch Steuererhöhungen bei den Unternehmen und den Reichen holen. “Nicht die Wall Street hat dieses Land aufgebaut”, rief Biden vorige Woche in seiner Rede vor dem Kongress aus. “Die Mittelschicht hat das Land aufgebaut. Und die Gewerkschaften haben die Mittelschicht geschaffen.” Die Linken bei den Demokraten, die Biden für einen ergrauten Langweiler aus der Mitte hielten, jubeln ihm plötzlich zu. Kann es dem Präsidenten tatsächlich gelingen, den prekär gewordenen Sozialstaat auf ein neues Fundament zu stellen? Oder wird Biden am Ende doch am alten amerikanischen Misstrauen gegen den europäischen “Sozialismus” scheitern?

Es gibt jedenfalls Gründe, auch von dieser Seite des Atlantiks mit wacher Neugier auf diese Präsidentschaft zu schauen. Vielleicht entdeckt Amerika unter Joe Biden wirklich sein soziales Gewissen neu. Vielleicht entfaltet es die gewünschte wirtschaftliche Dynamik. Gerechtigkeit schafft gesellschaftlichen Zusammenhalt und baut dem aggressiven, nationalistischen Populismus vor, mit dem Donald Trump Amerika vergiftet hat.

Als Europäer kann man den Vereinigten Staaten nur wünschen, dass dem Land diese Entgiftungskur gelingt. Zumal Amerika unter Biden auch in der Außenpolitik wieder ein berechenbarer, verlässlicher Partner wird. Wiedereinstieg in das Pariser Klimaabkommen; Rückkehr in die Weltgesundheitsorganisation und in den UN-Menschenrechtsrat; Verlängerung des New-Start-Vertrags mit Russland über die Interkontinentalraketen; Bereitschaft zu neuen Verhandlungen mit dem Iran über dessen Atomprogramm – selbst Jürgen Trittin von den Grünen bilanziert: “Die USA sind nach Joe Bidens ersten hundert Tagen im Amt wieder Vorbild und Verbündete im Kampf gegen die globalen Krisen unserer Zeit.”

Nord Stream 2 hat fast nur Gegner

Da überrascht es, wie uninspiriert, ja regelrecht lahm die offizielle Berliner Außenpolitik auf den Neubeginn in Washington reagiert. Im Weißen Haus sitzt nun der Präsident, den man sich gewünscht hat, ein alter Freund und ein Anti-Trump – aber es geschieht nichts. Jedenfalls nichts, was Biden innenpolitisch stärken würde.

Im Gegenteil. Unmittelbar vor Amtsantritt der neuen US-Regierung hat die EU auf deutsches Drängen ein Investitionsabkommen mit Peking beschlossen, obwohl Bidens Leute dringend um Verschiebung gebeten hatten. Am Dienstag allerdings hat die EU-Kommission die Ratifizierung des Abkommens vorläufig ausgesetzt. Auch gibt es aus Berlin bisher keine Initiative, den Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 beizulegen, die in Washington einhellig abgelehnt wird und die auch in der EU fast nur Gegner hat.

Im Juni kommt Joe Biden erstmals als Präsident nach Europa, um an den Gipfeln von G7 und Nato teilzunehmen. Vielleicht findet die deutsche Außenpolitik gegenüber Washington bis dahin ihre Worte wieder. Es kann ja sein, dass ihr die Freude die Sprache verschlagen hat. Zu befürchten steht allerdings, es ist ein Schweigen aus schierer Mut- und Einfallslosigkeit.

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