Mutual Defense in the Far East

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Das wichtigste Signal des ersten Nato-Gipfels nach Trump: Nun herrscht wieder Einigkeit. Doch das stimmt nicht ganz. Joe Biden fokussiert sich auf den Konflikt mit China.

Es war ein Gipfel der Harmonie: US-Präsident Joe Biden wurde in Brüssel von den anderen 29 Staats- und Regierungschefs der Nato mit emphatischer Erleichterung in ihrer Mitte aufgenommen. Endlich regiert in Washington wieder ein überzeugter Multilateralist und Transatlantiker, wie schön! Und mit der Botschaft eines Neubeginns in Eintracht war der Hauptzweck des ersten Treffens nach vier Jahren Trump eigentlich schon erfüllt.

Der neue Präsident hatte zuvor bekräftigt, Amerika stehe uneingeschränkt zur “heiligen” Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des Nato-Vertrags, das Bündnis sei “entscheidend” für die Sicherheit der Vereinigten Staaten. Natürlich drängt auch Biden darauf, dass die Alliierten ihre Zusage erfüllen, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben. Dies war ja keine Trump-Idee, sondern ein Nato-Beschluss aus dem Jahr 2014. US-Präsident war damals Barack Obama, Biden war sein Vize.

Bei jeder Gelegenheit hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg darauf hingewiesen, dass die Europäer seitdem ihre Militärausgaben spürbar erhöht haben. Auch Deutschland hat seinen Verteidigungsetat seit 2014 beträchtlich gesteigert, von damals 35 Milliarden auf heute 53 Milliarden Euro. Prozentual erreicht es damit aber noch immer nicht zwei Prozent, sondern liegt mit 1,53 Prozent im unteren Mittelfeld (Platz 19) aller 30 Mitgliedstaaten. Und wenn man auf die Finanzplanung in Berlin schaut, wird Deutschland noch weiter zurückfallen.

Aber die Zahlen standen diesmal nicht im Vordergrund. Afghanistan war ebenfalls kein zentrales Thema, obwohl die Nato-Staaten ihre Truppen in den nächsten Wochen komplett abziehen werden. Fast überstürzt wirkt dieser Abzug nach beinahe 20 Jahren Präsenz am Hindukusch. Die Sorge ist groß, dass die Taliban in Kabul bald an die Macht zurückkehren könnten. Damit der Afghanistan-Einsatz nicht in einem Fiasko endet, will die Nato die Ausbildung der afghanischen Armee fortsetzen, allerdings künftig im Ausland. Ob das reichen wird, um eine neuerliche Machtübernahme der Taliban zu verhindern?

Systemkonflikt mit China

Doch auch darum drehten sich die Brüsseler Debatten nicht. Sie konzentrierten sich vielmehr auf die strategische Neuausrichtung des Bündnisses. Joe Biden spricht seit Beginn seiner Amtszeit von einem historischen “Wendepunkt”, an dem der Westen stehe. Er möchte, dass sich die USA und ihre Verbündeten auf die Auseinandersetzung mit den autoritär regierten Staaten konzentrieren, und da vor allem auf den Systemkonflikt mit China.

Jens Stoltenberg liegt bei diesem Thema ganz auf Linie der Amerikaner. “Der Aufstieg des Landes ist die größte Sicherheitsherausforderung unserer Zeit”, sagte er vor dem Gipfel in einem Interview mit dem Spiegel. “China teilt nicht unsere Werte. Die Regierung kontrolliert die eigene Bevölkerung auf eine Art, die die Welt noch nicht gesehen hat. (…) Zugleich rückt China näher an uns heran und versucht, in Europa kritische Infrastruktur wie Häfen, Flughäfen oder Stromnetze zu kontrollieren.”

In Stoltenbergs Pressestatement nach Ende des Gipfels nahm China großen Raum ein: Die Nato müsse sich mit der Volksrepublik auseinandersetzen, diese bedrohe mit ihrer Aufrüstung und ihrer Desinformation die Interessen der Allianz. Von “systemischen Herausforderungen der regelbasierten internationalen Ordnung” ist in der Abschlusserklärung die Rede.

“Wir befinden uns in einem Zeitalter des globalen Systemwettbewerbs”

Das wichtigste Signal, das von diesem Gipfel ausgeht, ist also die geografische Erweiterung des Sicherheitsbegriffs über den nordatlantischen Raum hinaus. Die Nato blickt auf die indopazifische Region und will die Zusammenarbeit mit ihren “Partnern” dort – mit Japan, Südkorea, Australien oder Neuseeland – intensivieren. Wie es Jens Stoltenberg in einem Gespräch mit der Welt am Sonntag formulierte: “Die Nato ist eine Allianz von Europa und Nordamerika, aber wir müssen uns an ein globales Sicherheitsumfeld, das immer kompetitiver wird, anpassen. Wir befinden uns in einem Zeitalter des globalen Systemwettbewerbs.”

Darum also geht es. Wie es einer der klügsten außenpolitischen Köpfe in Berlin kürzlich sagte: “Die Zentralität der chinesischen Herausforderung für die USA bedeutet, dass das transatlantische Verhältnis immer stärker zu einer Funktion der deutschen und europäischen Rolle in der Chinastrategie der US-Regierung wird.” Tatsächlich betrachtet mancher in Washington die Nato in erster Linie als Baustein eines globalen Bollwerks der Demokratien gegen die Autokratien.

Die meisten europäischen Nato-Staaten dagegen sehen sich nach wie vor eher durch Russland bedroht, die Herausforderung durch China beunruhigt sie weniger. Der Gipfel in Brüssel dürfte ihnen klargemacht haben, dass sich das Zentrum der amerikanischen Außenpolitik endgültig zum Indopazifik verschiebt. Schön, wenn im nordatlantischen Raum Ruhe herrscht und wenn die Verbündeten einträchtig daran mitwirken, dort den Frieden zu wahren. Aber weltpolitisch rückt das traditionelle Nato-Gebiet, von Washington aus betrachtet, mehr und mehr an die Peripherie.

Was immer nun kommt. Was immer aus dem “neuen Kapitel” folgt, das die Nato nach den Worten Stoltenbergs heute aufgeschlagen hat: Den Neubeginn in Eintracht sollten solche Sorgen nach dem Willen der Gipfelteilnehmer nicht stören.

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