The Pudding Is Still Untouched

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Der Pudding ist noch nicht gegessen

An schönen Worten fehlt es nach den vielen internationalen Spitzentreffen der vergangenen Wochen nicht. Dabei besteht gegenüber Russland und China keineswegs Einigkeit.

Es war ein Gipfelreigen wie noch nie zuvor: Erst das G7-Treffen in Cornwall, dann der US-EU-Gipfel und die Nato-Konferenz in Brüssel, schließlich die Begegnung des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin in Genf. Jetzt herrscht über allen Gipfeln wieder Ruh’. Was ist am Ende dabei herausgekommen?

Zunächst einmal ein Konvolut von Kommuniqués, die einander an Weitschweifigkeit, Detailverliebtheit und diplomatischem Schwulst überbieten. 25 eng bedruckte Seiten umfasst das Leader’s communiqué der sieben Industrienationen, 31 schmalspaltige Seiten das US-EU-Statement, 31 engzeilig getippte Seiten das Abschlussdokument der 30 Nato-Staaten, das sich liest wie eine Wäscheliste, in der auch der kleinste Hosenknopf noch erwähnt wird; bestimmt hat es nicht ein einziger der Staats- und Regierungschefs je gelesen.

Die Schriftstücke werden manchen kleinen Referenten glücklich machen, der einen Satz oder gar Absatz hat unterbringen können, aber sie bringen die Welt nicht weiter. Es wimmelt vor Besorgnissen, vor Mahnungen und Warnungen, aber die Androhung von Vergeltung bleibt vage. Es muss alles erst geprüft, definiert, verabredet werden. Die Einsetzung von unzähligen Arbeitsgruppen ist daher wohl das konkreteste Ergebnis der ganzen Gipfelei.

Ist der Westen wieder da?

Ist Amerika zurück, sein Führungsanspruch allseits und auf allen Felder akzeptiert? Ist der Westen wieder da, die Einheit der transatlantischen Partnerschaft nach der von Trump heraufbeschworenen “Westlessness” wiederhergestellt? An schönen Worten fehlt es nicht, aber ich halte es da mit Joe Biden: “The proof of the pudding is in the eating.” Warten wir’s ab.

Mir fällt jedoch auf, dass in zwei wichtigen Fragen keineswegs Einigkeit besteht. Sie betreffen das Verhältnis zu Russland und zu China. An gemeinsamer Kritik am Verhalten der beiden Regime fehlt es zwar nicht. Peking wird aufgerufen, das Völker- und Seerecht im Südchinesischen Meer zu achten und in seiner Innenpolitik Menschenrechte und grundlegende Freiheiten zu respektieren, Russland soll sein destabilisierendes Verhalten beenden und die Unterdrückung der Opposition einstellen. Doch über den richtigen Umgang mit den beiden gehen die Meinungen zwischen Amerika und Europa, aber auch innerhalb der USA und der EU auseinander.

Im Abschlusskommuniqué der Nato wird Russland als potenzieller Gegner gesehen. Auf rund 100 Zeilen wird ihm seine auftrumpfende Haltung vorgeworfen, seine konventionelle und nukleare Aufrüstung, seine Provokationen an der Bündnisgrenze, seine spontanen Manöver, ferner die Hybridaktionen gegen Verbündete, die Einmischung in Wahlen, seine Desinformationskampagnen und maliziösen Cyberangriffe. Vor allem aber wird Moskau für die “illegale und illegitime Annexion der Krim” und deren “zeitweise Besetzung” verurteilt; die Nato wird sie nicht anerkennen. “Solange Russland nicht das Völkerrecht und seine internationalen Verpflichtungen einhält, kann es kein Zurück zu business as usual geben.”

Hätte der amerikanische Präsident diese Passage gelesen, hätte er sie streichen müssen. Und auch die Kapitel, in denen die Nato an dem Ziel festhält, Georgien und die Ukraine zu Nato-Mitgliedern zu machen. Denn er, der Putin im März noch einen “Killer” nannte, hatte sich entschlossen, das normale Geschäft der Außenpolitik wieder aufzunehmen, Kontakt zu suchen und den Versuch zu unternehmen, Spannungen abzubauen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu erkunden. So lud er Putin ein, führte mit ihm ein dreistündiges Gespräch, das beide als konstruktiv und produktiv empfanden.

Biden sprach die Menschenrechte und den Fall Nawalny an, Putin erging sich in Kritik an der amerikanischen Demokratie. Man sagte sich die Meinung und zog rote Linien. Aber dann schuf man Ansätze, um über Rüstungskontrolle und Risikominderung zu sprechen, auch über die Gefahren von Cyberangriffen. Zunächst treten die Botschafter ihr Amt wieder an, dann beginnen die Expertengespräche.

Die Trümmerbeseitigung macht große Politik wieder möglich. Die Bundeskanzlerin wird es gern sehen, dass der Gesprächsfaden wieder aufgenommen wird, weniger gern vielleicht die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und nicht ohne Misstrauen die Grünenvorsitzende und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Auch im Baltikum, in Polen und Tschechien ist der Argwohn groß. Was die Gespräche bringen, ob sie etwas bringen, sollte nach Bidens Einschätzung in drei bis sechs Monaten zu sehen sein.

Biden will Allianzen gegen China schmieden

In der Chinapolitik liegen die Dinge komplizierter. Da ist Bidens Strategie auf Konfrontation angelegt, weniger auf Kooperation. Washington sieht von China eine kommerzielle, technologische und militärische Gefahr ausgehen. Es strebe nach regionaler Hegemonie im Pazifik und letztlich nach der Verdrängung der Vereinigten Staaten aus ihrer weltweiten Vormachtstellung. Sein Ziel sei es, so US-Außenminister Antony Blinken, die vorherrschende politische, geopolitische, militärische und wirtschaftliche Macht der Welt zu werden. Bidens Priorität ist es, die Demokratien rund um den Globus zu einer Allianz gegen die Volksrepublik zusammenzuschmieden.

Die Europäer sehen in China keinen direkten militärischen Risikofaktor. Zwar stellt es unsere Werte in Frage, und mit seinem Seidenstraßenprojekt schafft es sich Einfluss bis hinein in die EU. Die Unterdrückung der Uiguren, die Aufhebung der Hongkonger Autonomie, die Bedrohung Taiwans empören auch die Europäer. Pekings Führungsehrgeiz, seine autoritären Eingriffe und sein imperiales Ausgreifen lassen seinen Aufstieg nicht länger bloß als Chance aussehen, sondern mehr und mehr als Herausforderung.

Die Europäer dringen vor allem auf Fairness und Gegenseitigkeit der Handels- und Investitionspolitik, auf Respekt und Anstand auch in den diplomatischen Beziehungen. Für sie sind die Chinesen unterschiedlich bald Partner, bald Konkurrenten, bald Systemrivalen. Eine existenzielle militärische Bedrohung geht von ihnen jedoch nicht aus. Hinzu kommt, worauf Frankreichs Präsident Macron aufmerksam gemacht hat: “Die Nato ist eine militärische Organisation für den Nordatlantik, mit dem China wenig zu tun hat, und in unserem Verhältnis mit China geht es am wenigsten um militärische Aspekte.”

Die Bundeskanzlerin lehnte vorzeitige Festlegungen ab

Dies – wie weitere Einwände aus Ungarn oder Griechenland – hat dazu geführt, dass die Chinapassage im Nato-Kommuniqué nur knappe 36 Zeilen lang ausgefallen ist, ein Zehntel bloß der Russlandpassage. Immerhin heißt es darin: “Chinas öffentlich erklärte Ambitionen und sein auftrumpfendes Verhalten stellen eine systemische Herausforderung auf die regelbasierte internationale Ordnung und die für die Bündnissicherheit relevanten Regionen dar.” Zugleich wird Peking zum konstruktiven Dialog über Vertrauensbildung, über seine Atomrüstung, über den Klimawandel und über potenzielle Meinungsverschiedenheiten aufgefordert.

Biden stellte sein Projekt Build Back Better World (B3W) vor – ein Infrastrukturprojekt im Umfang von mehreren Hundert Milliarden Dollar öffentlicher und privater Gelder, das er als Alternative zu Chinas Seidenstraßenprojekt anpries. Weder die Durchführung noch die Finanzierung waren indessen überzeugend dargestellt; die Bundeskanzlerin lehnte denn auch vorzeitige Festlegungen ab (“So weit, dass wir jetzt Finanzmittel spezifiziert hätten, so weit sind wir wirklich noch nicht.”). Eine weitere Arbeitsgruppe soll erst einmal das Rezept für den Pudding entwerfen, der da angerührt werden soll. Niemand kann sich auch da vorzeitig die Lippen lecken.

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