Flying Blindly toward Inflation

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Kommende Woche tagt die Spitze der US-Notenbank Fed. Die steigenden Preise bereiten ihr weniger Sorge als der Arbeitsmarkt. Wiederholt sie historische Fehler?

Notenbanker können sich irren, und zwar ziemlich dramatisch. Die Geschichte des Geldes hält einiger solcher Episoden bereit, zur Warnung und zur Abschreckung. Wir könnten heute einiges davon lernen.

Eine der tragischen Figuren der Geldgeschichte ist Arthur Burns: ein geachteter Ökonom, ein topqualifizierter Fachmann, der zuvor bereits amerikanischen Präsidenten als hochrangiger Berater gedient hatte. 1970 wurde er Chef der US-Notenbank Fed und präsidierte zwei Amtszeiten lang über steigende Preissteigerungsraten, eine Ära, die später als »Große Inflation« in die Wirtschaftsgeschichte eingehen sollte.

Vor genau 50 Jahren, im Juli 1971, saß Burns bei einer Anhörung im Kongress und berichtete von den Misserfolgen bei der Inflationsbekämpfung. Vor »ein oder zwei Jahren« habe man »allgemein erwartet«, dass die »Inflationsspirale« abgebremst würde. Allerdings: »Das ist nicht passiert, weder bei uns noch im Ausland.« Die Konsumentenpreise stiegen damals mit einer Jahresrate von viereinhalb Prozent. In den Jahren darauf legte die Inflation weiter zu. 1974 lag die Rate bei elf Prozent, zum Ende des Jahrzehnts war sie zeitweise noch höher. Da war Burns allerdings nicht mehr im Amt.

Wie konnte es so weit kommen?

Die Fed galt in den Siebzigerjahren als Geldbehörde, die auf der Höhe der Zeit der wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis arbeitete. Sie hatte kluge Leute versammelt, die alle damals angesagten Theorien und Methoden anwandten, die genau auf die Daten schauten und allerlei Prognosen anstellten. »Dennoch waren die ökonomischen Resultate desaströs«, so das Urteil des Ökonomen Athanasios Orphanides, der eine Reihe von Forschungsbeiträgen zum Versagen der Fed in den Siebzigerjahren geschrieben hat.

Die US-Notenbank wollte damals eine vorausschauende Geldpolitik betreiben, und sie hatte klare Ziele vor Augen: eine Inflationsrate von zwei Prozent und eine wachsende Wirtschaft mit niedriger Arbeitslosigkeit. Das klingt alles vernünftig – und seltsam vertraut. Inflationsraten irgendwo um zwei Prozent und ein möglichst hohes Beschäftigungsniveau, das sind auch heute die Ziele der US-Notenbank.

Arthur Burns’ Nachfolger treffen sich Mittwoch, um über den weiteren Kurs zu beraten. Der aktuelle Fed-Chef Jerome Powell hat vorige Woche bei einer Anhörung im Senat zu Protokoll gegeben, die Fed wolle die Zinsen auf dem extrem niedrigen Niveau von knapp über null belassen und erst mal warten, bis der »maximale Beschäftigungsstand« erreicht sei.

Allerdings stieg die US-Inflationsrate zuletzt mit einer Jahresrate von 5,4 Prozent deutlich schneller, als es der Zielwert der Fed vorsieht. 9,2 Millionen unbesetzte Stellen gab es Ende Mai in den USA. Häuserpreise und Mieten gehen durch die Decke, Gebrauchtwagen werden rapide teurer. Man könnte aus den Daten herauslesen, dass die Wirtschaft längst heißläuft und die Inflation weiter zu steigen droht.

Die Fed jedoch gibt sich relaxed: Die Raten sänken bald wieder. Sonderfaktoren nach der Coronakrise würden zwar für vorübergehende Preissteigerungen sorgen, die würden sich aber nach einer Übergangsphase zurückbilden. Man müsse weiterhin massiv Geld ins System pumpen, um die Krise endgültig zu überwinden.

Vielleicht haben Powell und seine Leute recht. Vielleicht liegen sie aber auch ähnlich falsch wie ihre Vorgänger vor einem halben Jahrhundert.

Die Schuld der Scheichs?

In den Siebzigerjahren schaute die US-Notenbank gebannt auf die Arbeitslosigkeit. Die Schätzungen der Ökonomen besagten, dass eine Quote von vier bis fünf Prozent erreichbar sei, ohne dass die Inflation stiege. Erst unterhalb dieser Schwelle würde die Knappheit an Arbeitskräften die Löhne in die Höhe treiben; erst dann würden die Unternehmen die höheren Arbeitskosten auf die Preise aufschlagen.

Weil die gemessene Arbeitslosenquote weit über diesem Wert lag, ging die Fed damals davon aus, dass es jede Menge ungenutzte Produktionskapazitäten in den USA geben müsse. Sie zog daraus den Schluss, dass man die Zinsen vergleichsweise niedrig halten könne, ohne die Inflation anzuschieben.

Wenn die Preise dennoch stiegen, dann müsste das andere, »nicht monetäre« Gründe haben, die außerhalb des Einflusses der Notenbank lägen. Steigende Ölpreise waren eine naheliegende Begründung: Nachdem das Petrokartell Opec 1973 erstmals seine Zähne gezeigt und den Ölpreis drastisch angehoben hatte, hatte der Westen mit steigenden Energiekosten zu kämpfen. Die Sichtweise, Amerika leide unter einem von außen kommenden »Kostendruck«, war damals weitverbreitet, auch in US-Medien, wie der Ökonom Edward Nelson gezeigt hat.

Ein Irrtum. Denn tatsächlich hatten sich, unbemerkt von den Notenbankern, die Wirtschaftsstrukturen verändert. Wie spätere Analysen zeigen würden, hatte sich die Inflationsschwelle deutlich verschoben. Insbesondere war die strukturelle Arbeitslosigkeit gestiegen. Die Folge: Die Notenbank hielt die Zinsen zu niedrig, stachelte die Inflation an, ohne dass die Arbeitslosigkeit auf das anvisierte Idealniveau gefallen wäre.

Darin steckt eine gehörige Portion Tragik. Denn die Fed handelte nicht aus Ignoranz so, sondern durchaus im Einklang mit den Daten, die ihr damals zur Verfügung standen.

Sicher, im Nachhinein ist man schlauer. Orphanides hat ausgerechnet, dass die US-Notenbank eigentlich die Zinsen früher und stärker hätte anheben müssen. Aber weil sie die Preisdynamik unter- und das Jobpotenzial der US-Wirtschaft überschätzte, wurde sie immer wieder von weit höheren Inflationsraten überrascht, ohne dass die Arbeitslosigkeit gesunken wäre.

Wiederholt sich die Geschichte jetzt? Die Antworten auf diese Frage gehen weit über die USA hinaus. Nach wie vor ist die Fed die einflussreichste Notenbank der Welt. Andere Geldbehörden folgen ihrem Kurs. Wenn die Fed Fehler begeht, wird das weltweit spürbar sein.

Beim Auswetzen der Scharte

Derzeit arbeitet die Fed auf Basis einer geldpolitischen Erzählung, die in etwa so geht: Die aktuell relativ hohen Inflationsraten seien ein vorübergehendes Phänomen. Steigende Preise seien der Coronakrise und den damit einhergehenden zeitweisen Produktionsengpässen geschuldet. Dieses Problem werde sich in Bälde von allein zurückbilden. Es ist derzeit die herrschende Meinung, die Europäische Zentralbank (EZB) sagt ganz ähnliche Dinge. Auch die Finanzmärkte glauben diese Story bislang.

Die Sorge der Fed gilt vor allem dem Arbeitsmarkt, wie die detaillierten Analysen in ihrem aktuellen geldpolitischen Bericht zeigen. Die Washingtoner Geldbehörde schaut nicht nur auf die Zahl derjenigen, die einen Job suchen, also offiziell als arbeitslos gelten, sondern auch auf diejenigen, die dem Arbeitsmarkt derzeit nicht zur Verfügung stehen. Und diese Zahlen liegen nach wie vor deutlich unter den Vor-Corona-Niveaus. Die Fed, so sieht es aus, wird alles daransetzen, diese Scharte auszuwetzen und die Beschäftigungsraten möglichst aller Bevölkerungsgruppen so weit zu steigern, als habe die Pandemie nie stattgefunden.

An dem Ziel ist per se nichts falsch. Leute in den Arbeitsmarkt zu locken, trägt zum individuellen Wohlbefinden und zur gesellschaftlichen Stabilität bei. Außerdem gehört es zum gesetzlichen Auftrag der Fed, nicht nur für Geldwertstabilität, sondern auch für hohe Beschäftigungsstände zu sorgen – anders als die EZB, die per EU-Vertrag der Preisstabilität vornehmlich verpflichtet ist. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Fed nicht dabei ist, die Fehler der Siebzigerjahre zu wiederholen.

Mit Vollgas in die Nebelwand

Tatsächlich peilt die US-Notenbank heute wie damals ein Beschäftigungsziel an. Solange die Beschäftigungsquote unter Vor-Corona-Werten bleibt, muss es nach dieser Logik ungenutzte Produktionskapazitäten in der Volkswirtschaft geben. Eine reichliche Geldversorgung wäre demnach dazu angetan, all diese Beschäftigungslosen und unterausgelasteten Produktionskapazitäten zu reaktivieren.

Kann richtig sein. Kann auch schiefgehen. Womöglich sind die niedrigeren Beschäftigungszahlen die neue Normalität. Vielleicht stellen wir im Nachhinein fest, dass sich im Zuge der Coronapandemie die Wirtschafts- und Beschäftigungsstrukturen massiv verändert haben, ähnlich wie das in den Siebzigerjahren der Fall war. Wir wissen es nicht.

Notenbanking ist die Kunst, durch den Nebel der Ungewissheit zu navigieren, ausgestattet mit ziemlich ungenauen Instrumenten. Die Anzeigen können täuschen. Um ihre Position zu bestimmen, greifen Notenbanken auf eine breite Palette von Daten zurück. Problematisch wird es, wenn sie mehrere Ziele gleichzeitig anzusteuern versuchen – und wenn sie allzu überzeugt von ihren eigenen Fähigkeiten sind, den wahren Zustand der Volkswirtschaft in Echtzeit erkennen zu können.

Der größte Fehler der Fed in den Siebzigern habe darin bestanden, den Kurs der Geldpolitik auf das »schwer fassbare Ziel der Vollbeschäftigung« zu konzentrieren, urteilt Orphanides. Es wäre besser gewesen, sich nur um die Eindämmung der Inflation zu kümmern.

Man darf gespannt sein, wie die Dollar-Story dieses Mal ausgeht.

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