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Das Vertrauen ist erschüttert

Joe Bidens Name wird für immer mit dem unrühmlichen Ende des Krieges in Afghanistan verbunden sein. Aber der US-Präsident ist nicht allein schuld daran. Die Vereinbarung seines Vorgängers Trump ließ ihm kaum eine andere Wahl, als den Abzug einzuleiten.

Niemand wird behaupten, dass US-Präsident Joe Biden beim Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan alles richtig gemacht habe. Nicht einmal er selbst würde das tun. Ebenso falsch aber liegen jene, die jetzt sagen, er habe alles falsch gemacht. Es stimmt, dass Bidens Name für immer mit dem unrühmlichen Ende des 20 Jahre währenden Krieges verbunden sein wird, mit all den schrecklichen Bildern, die gerade um die Welt gehen und lange in Erinnerung bleiben werden. Aber er ist nicht allein schuld daran.

Vier Präsidenten saßen seit 2001 im Weißen Haus, zwei Republikaner, zwei Demokraten. George W. Bush hat den Krieg begonnen, ausgehend von den Anschlägen des 11. September, die sich bald zum 20. Mal jähren. Schon unter seiner Führung zeichnete sich ab, dass die USA diesen Krieg nicht gewinnen würden. Bushs Nachfolger Barack Obama konnte sich trotzdem erst nicht zum Abzug durchringen, wie er sich zu so vielem nicht durchringen konnte – übrigens, obwohl ihm sein Vizepräsident Biden schon damals zum Ende des amerikanischen Engagements riet. Dann beschloss Obama doch den Abzug der meisten Kampftruppen bis 2014, freilich unterstützten die US-Luftwaffe und Spezialeinheiten Afghanistans Armee weiterhin.

Obama, der wohl intellektuellste US-Präsident der jüngeren Geschichte, war oft ein Zauderer. Sein Nachfolger Donald Trump, der wohl am wenigsten intellektuelle US-Präsident der jüngeren Geschichte, hatte mit den Taliban den Rückzug der amerikanischen Truppen vereinbart, versäumte es jedoch, dafür nennenswerte Gegenleistungen auszuhandeln. Hauptsache, es gab einen Deal.

Trump hatte sogar zugesagt, die Truppen bis zum 1. Mai abzuziehen

Biden hat recht, wenn er sagt, dass diese Vereinbarung seines Vorgängers ihm kaum eine andere Wahl ließ, als den Abzug einzuleiten. Trump hatte sogar zugesagt, die Truppen bis zum 1. Mai abzuziehen. Biden hat den Prozess dann ein wenig verlangsamt, in der Hoffnung, einen halbwegs geordneten Übergang zu bewerkstelligen. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, im Gegenteil. Es ist ein Abzug begleitet von Tod und Leid, von Angst und Zorn, und dafür muss Biden als Oberbefehlshaber der Streitkräfte die Verantwortung übernehmen.

Als der Präsident sich nach mehreren Tagen des Schweigens am Montag an die Nation wandte, um sein Handeln zu rechtfertigen, stellte er diese Frage in den Raum: Warum sollten US-Truppen noch länger einen Krieg kämpfen, den die afghanischen Truppen offenbar nicht selbst kämpfen wollen?

Das sah einerseits so aus, als zeige Biden wie ein schlechter Verlierer mit dem Finger auf eine vermeintlich unwillige Armee, um die Schuld von sich abzuwälzen. Es ist aber andererseits auch etwas dran. Die Amerikaner haben die afghanische Armee mit enormem Einsatz ausgebildet. Sie investierten viele Milliarden Dollar und stellten das Equipment bereit. Die afghanische Armee und die Nationalpolizei umfassten 300 000 Soldaten, sie waren den Taliban zahlenmäßig um mehr als ein Vierfaches überlegen. Konnte man wirklich damit rechnen, dass sie so gut wie gar keinen Widerstand leisten würden?

Biden ist der erfahrenste Außenpolitiker im Weißen Haus seit mindestens einem halben Jahrhundert. Er hat das Ende des Vietnamkriegs als junger Senator erlebt. Trotzdem habe er aus der Geschichte nichts gelernt, wird ihm nun vorgehalten. Das stimmt nicht.

Der moralische Führungsanspruch der USA ist einstweilen verwirkt

Gerade wegen der Erfahrung aus Vietnam war Biden seit Langem für den Abzug. Er wollte und will die Außenpolitik der USA neu kalibrieren und sich verstärkt dem Verhältnis zu den großen Rivalen China und Russland widmen. Er ist der Ansicht, es habe diesen Nationen lange in die Hände gespielt, dass die USA gigantische Ressourcen am Hindukusch investierten, die anderswo fehlten.

Dass sich gute Argumente für den Abzug finden lassen, steht außer Frage. Das Gros der US-Politiker beider Parteien befürwortet diesen seit Jahren. Der amerikanischen Bevölkerung war es nicht mehr zu vermitteln, dass das Land einen nicht enden wollenden Krieg am anderen Ende der Welt führte. Bei diesem Thema waren sich sogar viele Anhänger Trumps und Bidens einig. Die Mehrheit der Menschen in den USA dürfte Bidens Vorgehen daher befürworten.

Allerdings ist die Art und Weise des Abzugs eine einzige Katastrophe. Biden hatte sich auf das symbolische Datum des 11. September festgelegt, bis zu dem er die amerikanischen Truppen nach Hause bringen wollte. Damit hat er sich unnötig unter Zeitdruck gesetzt, was die Taliban gnadenlos nutzten. Sinnvoll wäre ein Rückzug gewesen, in dessen Verlauf zunächst gesichert wird, dass die vielen afghanischen Helfer in Sicherheit gebracht werden.

Hierin liegt das größte Versagen der USA und damit auch Bidens: dass jetzt so viele, die an der Seite Amerikas standen, im Stich gelassen werden. Das wird zum einen das Vertrauen von aktuellen und potenziell künftigen Verbündeten in aller Welt erschüttern. Zum anderen war der Führungsanspruch der USA, zumindest in der Selbstwahrnehmung, immer auch ein moralischer. Dieser ist einstweilen verwirkt.

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