Hier die Demokratie, also die Guten, und dort dann Russland, China und die anderen Bösen? So einfach wie US-Präsident Joe Biden sich die Welt vorstellt, ist sie nicht.
Der zweitägige Demokratiegipfel von US-Präsident Joe Biden in der vergangenen Woche war eine seltsame Veranstaltung. Um es klar zu sagen: ein Gipfel an Scheinheiligkeit. Die Vereinigten Staaten sind zuallererst selbst nicht gerade das Modell einer funktionierenden Demokratie. So weigerte sich Donald Trump, ein rechtmäßiges Wahlergebnis anzuerkennen, und danach hetzte er seine fanatischen Anhänger und Anhängerinnen zum Sturm auf das Kapitol. Und er ist nicht der einzige Übeltäter: 19 der 50 Bundesstaaten haben in jüngster Zeit Gesetze erlassen, die Schwarzen und ethnischen Minderheiten das Wählen erschweren. Lähmende Polarisierung und zunehmende Gewalttätigkeit sind die Kennzeichen einer ominösen Aushöhlung der amerikanischen Demokratie. Bevor die Biden-Regierung anderen die Leviten liest, sollte sie erst einmal das eigene Haus in Ordnung bringen.
Die kuriose Gästeliste widerlegt im Übrigen die Unterstellung, dass es Biden vor allem darum ging, aufrechte Demokratien gegen die Autokratien der Welt zusammenzuschließen. Eingeladen wurden vielmehr so anrüchige Figuren wie der brasilianische Tropen-Trump Bolsonaro, der mörderische, philippinische Präsident Duterte, der zum Despotismus neigende indische Regierungschef Modi und die Vertreter so finsterer “Demokratien” wie Angola, die Demokratische Republik Kongo, Irak und Pakistan (das aus Rücksicht auf China lieber nicht kam). 30 Prozent der Gipfelteilnehmer stammten aus Ländern, die im einschlägigen Ranking von Freedom House als “teilweise frei” oder “nicht frei” gelistet sind.
Nicht der Kampf für die Demokratie war das entscheidende Kriterium, sondern strategische Erwägungen. Wie Time bemerkte: “Bei der Versammlung ging es letztlich um die Gründung einer Koalition gegen China und Russland.”
Ein wenig ging es wohl auch um Wahlkampfüberlegungen. Es gibt, worauf der welterfahrene Klaus von Dohnanyi hingewiesen hat, nur vier Millionen US-Amerikaner und -Amerikanerinnen ungarischer Abstammung – da verschlägt es nichts, das Ungarn Viktor Orbáns außer Betracht zu lassen. Hingegen stammen rund 20 Millionen Eingewanderte und deren Nachkommen aus Polen – eine wichtige Wählergruppe, also wird die PiS-Herrschaft Jarosław Kaczyńskis eingeladen, obwohl er die Unabhängigkeit der Justiz in höchst autoritärer Manier untergräbt.
All dies sind keine Belanglosigkeiten. Weit bedeutsamer ist jedoch der Kern der Bidenschen Weltanschauung: Er will die Staatenfamilie in zwei Gruppen, zwei Blöcke, zwei feindliche Lager einteilen. Das wird jedoch ihrer komplexen Struktur in keiner Weise gerecht. Dazu mehrere Anmerkungen.
Erstens: Die Demokratien sind unbestreitbar den Rivalitäten und den Anfeindungen der autoritären Großmächte China und Russland ausgesetzt. Doch die Krise der Demokratien ist nicht deren Machenschaften zuzuschreiben. Die eigentliche Gefahr geht da von unseren eigenen Unzulänglichkeiten, Schwächen und demokratischen Sündenfällen aus. Wachsende Armut, zunehmende Ungleichheit und ausgeleierte öffentliche Dienste sind die Ursachen, nicht die Einflüsterungen und Einmischungen aus Peking oder Moskau.
Zweitens: Die Welt zu demokratisieren, ist den USA mit militärischen Mitteln nicht gelungen, und es wird Joe Biden auch nicht mit einem Propagandafeldzug glücken. Der Hang zum Autoritarismus nimmt von Myanmar bis Sudan zu, und man kann sich die Autoritären nicht einfach wegwünschen. Die Demokratien müssen sich gegen sie absichern, doch umkrempeln lassen sie sich nicht. Kennedys Ziel empfiehlt sich auch heute: “Make the world safe for diversity” – durch Kontakt und Kommunikation.
Drittens: Die Welt wird sich nicht in zwei Lager teilen lassen, weil nicht viele Staaten Teil eines geopolitischen Blocks werden wollen. In Afrika wie in Asien sind sie vielmehr darauf aus, ihre Unabhängigkeit zu erhalten und sich nicht für die eine oder andere Großmacht entscheiden zu müssen, sondern sich ihre Ambiguität zu bewahren, die Möglichkeit, mit allen sachlich umzugehen.
Viertens: Dass Staaten gleiche Ideologien und Wertesysteme haben, bedeutet nicht unbedingt, dass sie auch gleiche Interessen verfolgen. Demokratien haben oft unterschiedliche, ja: gegensätzliche Interessen, aber auch Autokratien streben nicht durchweg identische außenpolitische Ziele an.
Fünftens: Sehr wohl aber können Demokratien und Autokratien gemeinsame Sorgen, Interessen und Ziele haben. Pandemien wie Covid-19, der Kampf gegen den Klimawandel oder auch die Eindämmung der Atomwaffenproliferation im Rahmen einer zielbewussten Friedenspolitik sind Menschheitsprobleme, die Koordination und Kooperation zwischen Demokratien und Nichtdemokratien zwingend erfordern. Die Welt aus ideologischen Gründen in zwei feindliche Lager aufzuteilen, würde die unabdingbare multilaterale Zusammenarbeit behindern, wo nicht ganz verhindern – darauf hat Javier Solana, der frühere Nato-Generalsekretär und EU-Außenbeauftragte Anfang des Jahres schon hingewiesen. Wenn es tatsächlich, wie die FAZ berichtet, die Ansicht unserer neuen Außenministerin ist, dass die Gemeinschaft des Westens sich nicht durch Abgrenzung von den aggressiven Autokratien definieren soll, sondern durch die Herausstellung ihrer eigenen Stärken und Kooperationsabsichten, stehen ihr in Washington prekäre Gespräche bevor.
Notwendig ist auf dem Feld der auswärtigen Beziehungen Realpolitik. Der Erfinder dieses Begriffs war August Ludwig von Rochau. Jacques Schuster hat jüngst in der Welt Rochaus Definition ausgegraben, die ich seit Jahrzehnten in meinem Zettelkasten stehen habe. Sie gehört auf Joe Bidens Schreibtisch: “Die Realpolitik bewegt sich nicht in einer nebelhaften Zukunft, sondern in dem Gesichtskreis der Gegenwart. Sie findet ihre Aufgabe nicht in der Verwirklichung von Idealen, sondern in der Erreichung konkreter Zwecke. Endlich ist die Realpolitik eine Feindin aller Selbsttäuschung. Es ist ihr eine Gewissenssache, die Menschen und Dinge so zu sehen, wie sie sind, und demgemäß das zu wollen, was sie kann.”
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