Ein kalkulierter Tabubruch
Zehntausende Tiere werden nur gehalten und getötet: um dem Menschen als Ersatzteillager zu dienen. Ist das moralisch vertretbar? Auf jeden Fall – und auch weiter verbreitet, als viele glauben.
Schwein zu sein, bedarf es wenig. Schnell sind die beim Borstenvieh entlehnten Attribute bei der Hand, wenn es darum geht, Menschen herabzuwürdigen. Dabei sind Schweine reinlich, intelligent – und ihre Organe denen des Menschen vergleichsweise ähnlich. Als Glücksschwein hat sich für einen 57 Jahre alten Amerikaner – zumindest vorläufig – das Tier erwiesen, dessen Herz er Ende vergangener Woche eingesetzt bekam. In einer achtstündigen Operation wurde ihm an der University of Maryland das Organ eines gentechnisch veränderten Schweins übertragen.
Schweineherzen, die in der Brust eines Menschen schlagen? Da mag manchem Beobachter das Herz schwer werden. Schließlich ist das Unbehagen bei derartigen Grenzüberschreitungen groß; die Nachricht könnte eine ethisch-moralische Abstoßungsreaktion zur Folge haben. Doch sind Tabubrüche in der Medizin nicht längst alltäglich geworden und so weit fortgeschritten, dass die Verpflanzung eines Schweineherzens nur eine Frage der Zeit war? Erst im September wurde einem Patienten in New York die Niere eines Schweins implantiert.
Bereits in den Sechzigern wurden Affenherzen auf Menschen übertragen
Es lohnt sich, die moralischen Aspekte dieser medizinischen Pioniertat zu filetieren. Organe von Tier zu Mensch zu verpflanzen – fachlich als Xenotransplantation bezeichnet -, ist seit Jahrzehnten ein ehrgeiziges Projekt der Medizin. Bereits in den Sechzigerjahren wurde versucht, Nieren von Pavianen zu übertragen; in den Achtzigern bekam “Baby Fae” das Herz eines Pavians. Das Kind, mit einem schweren Herzfehler zur Welt gekommen, starb drei Wochen nach der Transplantation. Bisher scheiterten die experimentellen Therapien immer daran, dass die fremden Organe nach kurzer Zeit abgestoßen wurden, was allerdings auch bei der Übertragung menschlicher Organe vorkommt. Dies soll im aktuellen Fall verhindert werden, indem mehrere Gene des Schweins verändert wurden, die eine akute Abstoßung durch das menschliche Immunsystem wahrscheinlicher gemacht hätten.
Tiere als Ersatzteillager für Menschen, noch dazu gentechnisch verändert? Bevor ein Aufschrei der Empörung losbricht, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass derartige Verfahren bereits häufig in Gebrauch sind, wenn auch kleinteiliger dosiert. Herzklappen von Schweinen werden seit Jahren in der Kardiologie verwendet, wenn das menschliche Material schlappmacht. Millionen Diabetiker spritzten sich Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Schwein und Rind, bis das besser verträgliche und einfacher herzustellende gentechnisch produzierte Hormon therapeutische Erleichterung brachte.
Das Herz gilt als Sitz der Liebe, des Gefühls – dabei ist es nur eine Saug-Druck-Pumpe
Doch die kulturelle Dimension spielt beim Ersatz eines Herzens nun mal eine besondere Rolle. Obwohl das Herz aus mechanistisch-reduktionistischer Sicht nur eine Saug-Druck-Pumpe ist, gilt das Organ als Sitz von Liebe, Gefühl, Gemüt. Dass sich Charakter und Persönlichkeit eines Menschen nicht verändern, wenn er ein Schweineherz eingepflanzt bekommt, ist unbestritten. Trotzdem weckt die Vorstellung befremdliche Assoziationen, weil das Herz für jedes fühlende Wesen eine, nun ja, Herzensangelegenheit ist. Im Gegensatz zu Herzklappen oder Insulin tierischen Ursprungs handelt es sich bei vollständigen Herzen zudem um funktionierende Organe, nicht nur um Einzelteile.
Wer sich davon abgestoßen fühlt, dass Tiere nur zum Zweck der medizinischen Nutzung gehalten, gezüchtet, gentechnisch verändert und getötet werden, sollte die Massentierhaltung nicht vergessen. Millionen Tiere weltweit werden zum Verzehr gehalten, gezüchtet – manche gentechnisch verändert – und getötet. Die medizinische Nutzung ist um mehrere Größenordnungen seltener. Der Bedarf an Spenderorganen geht in die Hunderttausende, der an Tieren für die Nahrungsmittelproduktion in die Millionen und Milliarden.
Tierwohl, Menschenwohl – die moralische Bewertung sollte man sich nicht leicht machen, sie ist auch keine Frage der Dimension. Wer verzichtet schon komplett auf tierische Produkte, isst sie nicht, wer braucht kein Leder, keine Daunen, keine Federn? Zudem werden Millionen Kilogramm Fleisch von Nutztieren jährlich an ach so süße Haustiere verfüttert.
Und der therapeutische Nutzen? Das wäre ein hohes ethisches Gut. Allerdings ist der Erfolg der Ersatzorgane aus dem Tier fraglich. Man darf den US-Ärzten unterstellen, dass es ihnen zunächst um Ruhm und Experimentierfreude ging – darum, auszuprobieren, was geht. Sollte sich bei solchen kalkulierten Grenzüberschreitungen ein Nutzen zeigen, ist das als willkommene Nebenwirkung eingepreist, aber keineswegs sicher. Noch ist unklar, wie lange der Patient mit dem Schweineherzen überleben wird. Trotz eines Arsenals an Medikamenten, die eine Abstoßung verhindern sollen, kann es sein, dass der Organismus den Fremdkörper aus dem fremden Körper zurückweisen wird. Das Unbehagen über das Schweineherz in der Brust eines Menschen bleibt. Wenn es trotz aller Risiken gut geht, darf man dem Patienten immerhin zurufen: Schwein gehabt.
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