We Call It an ‘Existential Crisis’*

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We call it Sinnkrise

Die Erwartungen an Joe Bidens erste Rede zur Lage der Nation sind riesig. Denn die Amerikaner sind enorm unzufrieden. Der US-Präsident muss das Unmögliche leisten.

Bei seinem Amtsantritt im vergangenen Jahr hatte Präsident Biden eine Botschaft an seine Landsleute und den Rest der Welt: “America is back!” Dem würden heute nur wenige Amerikaner zustimmen. Wenn Biden am Dienstagabend die traditionelle Rede zur Lage der Nation hält, könnte die Stimmung im Land kaum düsterer sein. Nur 49 Prozent der Amerikaner gaben bei einer Umfrage des Marist College im Dezember an, mehr optimistisch als pessimistisch zu sein. Seit die Meinungsforscher diese Frage stellen, lag der Anteil der Zufriedenen erstmals seit 2009 unter 50 Prozent.

Besonders unzufrieden sind die US-Bürger mit der Wirtschaftslage. Nach einer aktuellen Umfrage des TV-Senders ABC und der Washington Post beurteilen 75 Prozent der Amerikaner die ökonomische Lage negativ. Dabei haben die US-Unternehmen im vergangenen Jahr trotz der Pandemie 6,4 Millionen neue Stellen geschaffen – ein Rekord. Damit erholt sich der Arbeitsmarkt in den USA schneller als in anderen Regionen der Welt. Auch die Löhne sind gestiegen. Der Zuwachs um 5,8 Prozent ist das höchste jährliche Lohnwachstum in 40 Jahren. Doch bei näherer Betrachtung hat die Erholung ihre Schattenseiten.

Alles teurer

So haben das anziehende Wirtschaftswachstum und pandemiebedingte Lieferengpässe eine starke Inflation ausgelöst. Im Januar betrug die Inflationsrate 7,5 Prozent und lag damit deutlich über dem Lohnwachstum. Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen für die Energiemärkte könnten die Teuerung bald in den zweistelligen Bereich wachsen lassen. Schon jetzt sind die Preiserhöhungen in fast allen Bereichen spürbar – von Eiern, Fisch und Fleisch bis zu Kleidern, Möbeln und Gebrauchtwagen. Und die absolute Zahl der neu geschaffenen Stellen markierte zwar einen neuen Rekord, doch es fehlen immer noch knapp vier Millionen Arbeitsplätze, um wieder auf denselben Stand wie vor der Pandemie zu kommen. Der Schock von 2020, als rund 22 Millionen Jobs durch die Pandemie vernichtet wurden, sitzt noch immer tief.

Die Pandemie bringt zudem auch den Wohnungsmarkt durcheinander. Bei vielen haben die Lockdowns den Wunsch nach einem neuen Heim ausgelöst und dadurch einen Immobilienboom angefacht. Die Interessenten überbieten sich gegenseitig, um sich Objekte zu sichern. Solche Bieterkämpfe unter Hauskäufern gab es zuletzt in den frühen Nullerjahren – und endeten damals mit der Finanzkrise. Während sich Hauseigentümer nun um Wertzuwächse von bis zu 20 Prozent freuen können, treiben die höheren Immobilienpreise jedoch gleichzeitig die Mieten in die Höhe. Die Flucht vieler wohlhabenderer Großstädter in Klein- und Mittelstädte hat zudem zur Folge, dass der Wohnraum für Alteingesessene vielerorts unbezahlbar geworden ist. Etwa in Spokane, einer Stadt mit rund 230.000 Einwohnern im nördlichen Bundesstaat Washington, wo die Preise für ein Eigenheim in den vergangenen zwei Jahren um 60 Prozent gestiegen sind.

Was ist mit Portland passiert?

Die schlechte Stimmung in den USA hat aber nicht nur ökonomische Gründe. Der soziale Zusammenhalt ist schon in guten Zeiten in der vielschichtigen Nation ein Problem – nun ist er noch brüchiger geworden. Die Gewaltbereitschaft steigt, oft in Großstädten wie New York, aber nicht nur. In Portland im Bundesstaat Oregon, eigentlich bekannt für seine entspannte und tolerante Atmosphäre, kamen am vorvergangenen Wochenende bei Schießereien drei Menschen ums Leben, acht weitere wurden verletzt. Einer der Täter war ein 43-jähriger Maschinenschlosser, der sich über eine friedliche Demonstration in seiner Nachbarschaft so aufregte, dass er seine Waffe holte und einer 60-jährigen Teilnehmerin in den Kopf schoss. In den ersten zwei Monaten dieses Jahres verzeichnete die Polizei in der 650.000-Einwohner-Stadt 234 Schießereien, mit 18 Toten und 64 Verletzten. “Die Waffengewalt in dieser Stadt übersteigt alle meine Worst-Case-Szenarien”, zitierte die Lokalzeitung The Oregonian Ken Duilio, Mitglied einer Spezialeinheit zur Bekämpfung von Waffengewalt bei der Polizei Portland. Er frage sich, was mit seiner Heimatstadt passiert sei.

Auch die Drogenkrise verschärft sich weiterhin. Die Pandemie hat das schon zuvor unzureichende Angebot an Behandlungs- und Betreuungsplätzen noch weiter ausgedünnt. Täglich sterben durchschnittlich 75 Amerikaner an einer Überdosis Opioide, Fentanyl, Methamphetamin oder Kokain. 100.306 Drogentote meldete die Gesundheitsbehörde CDC für die zwölf Monate bis April 2021. Das waren 28 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Doch schon lange vor der Pandemie haben sogenannte Verzweiflungstode – durch eine Überdosis, durch Alkoholismus oder Suizid – in den USA zugenommen. Sie haben zusammen mit den Folgen von Fettleibigkeit seit 2014 zu einer sinkenden Lebenserwartung geführt ¬– komplett gegen den Trend in anderen Industrienationen.

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte der USA, dass die Amerikaner in einer solchen Sinnkrise stecken. “Der Zerfall unseres Glaubens an die Zukunft droht, das soziale und politische Gefüge Amerikas zu zerstören”, warnte einst Jimmy Carter in seiner Rede im Sommer 1979. Der 39. Präsident erkannte damals zunehmende “Zweifel am Sinn unseres Lebens und den Verlust der gemeinsamen Bestimmung unserer Nation.” Wie Biden kämpfte Carter nicht nur mit der miesen Stimmung im Land, sondern auch mit Inflation und den Folgen seiner eigenen außenpolitischen Fehler.

Noch zu Beginn seiner Amtszeit wurde Joe Biden mit seinen billionenschweren Plänen für die Sanierung der maroden Infrastruktur und den Aufbau eines neuen sozialen Netzes als neuer Franklin D. Roosevelt gefeiert. Dieser hatte die USA aus der Depression der Dreißigerjahre und durch den Zweiten Weltkrieg geführt. Inzwischen vergleicht ihn aber nicht nur der britische Historiker Niall Ferguson mit Jimmy Carter. Dessen selbstzweiflerische Ansprache wurde berüchtigt und trug mit Sicherheit zu seiner späteren Niederlage gegen Ronald Reagan bei. Angesichts der Weltlage und der Situation im eigenen Land könnten die Erwartungen an Joe Bidens Rede kaum größer sein. Gerecht werden kann er ihnen wohl kaum.

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