Abortion Rights in the US: The Supreme Court Fuels the Fight Instead of Resolving It

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Abtreibungsrecht in den USA: Der Supreme Court facht den Streit an, anstatt ihn beizulegen

Die vom Obersten Gericht angeblich geplante Aufhebung des liberalen Abtreibungsrechts hat in der Praxis weniger dramatische Auswirkungen als in der Theorie. Das vorzeitige Leak des Urteilsentwurfs wird den Entscheid aber schwer belasten.

Sollte der durchgesickerte Entwurf dem finalen Urteil des amerikanischen Supreme Courts in der Abtreibungsfrage entsprechen, bedeutete dies ein politisches Erdbeben. Nach Jahrzehnten des erbittert geführten Streits wäre damit «Roe v. Wade» Geschichte, ein fast fünfzig Jahre alter Leitentscheid, der in seiner Berühmtheit wohl nur von den Urteilen zur Gleichstellung der Afroamerikaner übertroffen wird.

Überraschend ist dabei nicht, dass das Abtreibungsrecht eingeschränkt wird. Nachdem das Oberste Gericht vor anderthalb Jahren mit der dritten von Donald Trump zu besetzenden Vakanz eine klare konservative Mehrheit erhalten hatte, war das zu erwarten. Erstaunlich ist vielmehr die Radikalität, mit der die Richter «Roe v. Wade» kippen. Im Entwurf ist von einem «von Anfang an ungeheuer falschen» Urteil die Rede, einer «aussergewöhnlich schwachen Argumentation» und schädlichen Folgen.

Tatsächlich hat der damalige Entscheid mit seiner sehr weitgehenden Liberalisierung Schwächen, die den Konflikt um den Schwangerschaftsabbruch befeuerten, anstatt ihn beizulegen. Dennoch ist die Wortwahl bemerkenswert für ein immerhin mehrfach bestätigtes Präjudiz, dem im angelsächsischen System im Sinne der Rechtssicherheit eine hohe Bedeutung zukommt.

Nur in der Hälfte der Gliedstaaten blieben Abtreibungen legal

Die Richter sehen damit voraussichtlich von einem Kompromiss ab, den der zu beurteilende Fall im Grunde ermöglichen würde. Er betrifft ein Gesetz aus Mississippi, das Schwangerschaftsabbrüche bis zur 15. Woche erlaubt. Diese Regelung für zulässig zu erklären, wäre eine Beschneidung von «Roe», bedeutete im internationalen Vergleich aber immer noch eine liberale Regelung. In den USA werden 93 Prozent der Abtreibungen vor diesem Zeitpunkt vorgenommen.

Der Chief Justice John Roberts dürfte laut Experten diese Lösung favorisieren. Sie würde das Ringen um dieses vielleicht wichtigste Thema des amerikanischen Kulturkampfs aber nicht beenden. Insofern ist eine völlige Aufhebung von «Roe v. Wade» der konsequentere Schritt.

Die Folgen wären jedoch in der Theorie wohl gravierender als in der Praxis. Die Abtreibung wäre nicht mehr auf nationaler Ebene geregelt, sondern es träten fünfzig unterschiedliche gliedstaatliche Gesetze in Kraft. Das ist in den ausgeprägt föderalistischen USA nicht ungewöhnlich. In Erwartung einer Änderung der Rechtsprechung haben dreizehn konservative Staaten bereits sogenannte Trigger-Gesetze erlassen, die Abtreibungen mit dem Ende von «Roe» verbieten werden.

Laut der Nichtregierungsorganisation Guttmacher Institute dürften dreizehn weitere Staaten den Eingriff künftig sicher oder wahrscheinlich untersagen. Nur in knapp der Hälfte der Staaten blieben Schwangerschaftsabbrüche demnach erlaubt. In einem Land dieser Grösse ist das zweifellos ein Problem und ein anachronistischer Rückschritt für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen.

Allerdings sind die Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch in den konservativen Regionen durch stetige Gesetzesverschärfungen schon jetzt eng begrenzt worden. So existiert in sechs Gliedstaaten nur noch eine einzige Abtreibungsklinik, was Frauen schon bisher zu teilweise weiten Reisen zwang. In progressiv geprägten Staaten wie Illinois entstanden dafür gynäkologische Praxen in unmittelbarer Grenznähe zu Staaten mit praktischen Verboten.

Organisationen, die für die Entscheidungsfreiheit von Frauen eintreten, kommen für die Reisekosten von bedürftigen Schwangeren auf und dürfen nun mit einer Flut von Spenden rechnen. Selbst verschiedene Unternehmen kündigten an, entsprechende Ausgaben ihrer Arbeitnehmerinnen zu übernehmen. Schliesslich werden mittlerweile mehr als die Hälfte der Abtreibungen medikamentös eingeleitet mit der Möglichkeit, die dafür notwendigen Tabletten legal oder illegal aus einem anderen Gliedstaat oder dem Ausland zu beschaffen. Härtefälle mit vereinzelt sogar tödlichen Folgen dürfte es trotzdem geben. Sie werden primär arme Frauen treffen und damit überdurchschnittlich oft Angehörige ethnischer Minderheiten.

Wer hatte ein Interesse am Leak?

All das ändert nichts am Aufschrei, den der Urteilsentwurf unter Befürwortern eines liberalen Abtreibungsrechts in den USA ausgelöst hat. Dass er vorzeitig publik gemacht wurde, ist präzedenzlos und dürfte das Gericht nachhaltig erschüttern. Es ist auf Verschwiegenheit und vertrauensvolle Zusammenarbeit bedacht – auch, um dem in den letzten Jahren immer öfter erhobenen Vorwurf der Politisierung entgegenzuwirken.

Zum Entwurf konnte nur ein kleiner und exklusiver Kreis der Richter und ihrer engsten Mitarbeiter Zugriff haben. Wer ein Interesse am Leak hatte, vermutlich um damit das Urteil noch in eine andere Richtung zu lenken, ist offen. Gewiss ist aber, dass dies den Supreme Court in den Strudel der Parteipolitik reisst. Das schadet dem Ansehen des Gerichts enorm – und damit der Akzeptanz seiner Entscheidungen.

Spürbar wird das bereits im Juni sein, wenn die Richter ihr definitives Urteil in der Abtreibungsfrage fällen werden. Wie auch immer es ausfallen wird: Für einen Teil des Landes wird es sich um einen rein politischen Entscheid handeln, der entsprechend kompromittiert ist. Für das Oberste Gericht ist das ein Debakel. Der Streit, den es laut dem Entwurf mit dem Ende von «Roe v. Wade» beizulegen versucht, wird so erst recht angefacht.

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