Die chinesische Autokratie macht sich in Lateinamerika breit – und der Westen schaut zu
Wenn die USA und Europa in der Konfrontation mit den autoritären Grossmächten bestehen wollen, brauchen sie die Unterstützung aller Gleichgesinnten. Statt Lateinamerikas Demokratien China zu überlassen, sollten sie diese aktiv fördern und einbinden.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat der Welt unmissverständlich vor Augen geführt, dass wir drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges in eine neue globale Konfrontation zwischen den westlichen Demokratien und autoritären Grossmächten eingetreten sind. Präsident Putin dürfte diesen Krieg verlieren. Doch die eigentliche Herausforderung für den Westen wird in diesem Jahrhundert das autoritäre China werden. Dabei wird es von entscheidender Bedeutung sein, dass die Länder, welche die westlichen demokratischen Werte vertreten, Geschlossenheit gegenüber der autoritären Bedrohung zeigen.
Zu dieser Wertegemeinschaft gehört auch ein Grossteil der lateinamerikanischen Staaten. Keine andere Weltregion ist kulturell und wertemässig so eng mit Europa und den USA verbunden. Es sind bis heute hauptsächlich Nachkommen der europäischen Einwanderer, welche das politische und wirtschaftliche Leben in Lateinamerika dominieren.
Man mag einwenden, dass Lateinamerika bis zum Ende des Kalten Krieges von Militärdiktaturen geprägt war, vergisst dabei aber leicht, dass bis 1945 auch ein bedeutender Teil der Europäer nicht in einer Demokratie lebte. Jedenfalls hat sich in den letzten dreissig Jahren in den meisten lateinamerikanischen Ländern eine demokratische Gesellschaftsordnung durchgesetzt. Diese hat bisher weitgehend standgehalten trotz der jüngsten Wirtschaftskrise, die Teile der Bevölkerung in die Armut zurückfallen liess, und trotz schwerer Heimsuchung durch Covid.
Suche nach Rohstoffen und Märkten
Doch seit der Jahrtausendwende ist in Lateinamerika der Einfluss der chinesischen Autokratie rasch gewachsen. Dies bis zu dem Punkt, an dem er die westliche Vorherrschaft zu verdrängen beginnt. Im Jahr 2000 gingen lediglich 1,1 Prozent der Exporte aus der Region nach China. 2018, vor Beginn der Pandemie, waren es bereits 21 Prozent, wenn man das stark mit den USA verflochtene Mexiko nicht mitrechnet. China hat damit die USA, wohin im gleichen Jahr nur 15 Prozent der Exporte gingen, bereits deutlich übertroffen.
China spielt auch eine immer wichtigere Rolle als Kreditgeber. Von 2005 bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie stellte es den Ländern der Region insgesamt 141 Milliarden Dollar zur Verfügung, mehr als die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank und die südamerikanische Entwicklungsbank zusammen. Von den fünf grössten Volkswirtschaften Südamerikas ist China inzwischen der wichtigste Handelspartner von Brasilien, Chile und Peru sowie der zweitwichtigste von Argentinien und Kolumbien.
Ein besonderes Augenmerk hat China auch auf den Ausbau der regionalen Infrastruktur gelegt. Präsident Xi Jinping versprach 2015, innerhalb von zehn Jahren dafür 250 Milliarden Dollar zu investieren. Seit 2017 können die lateinamerikanischen Länder dem chinesischen aussen- und wirtschaftspolitischen Grossprojekt zum Aufbau einer globalen Infrastruktur – der Belt-and-Road-Initiative (BRI) – beitreten. Sie zielt auf den Bau von Häfen, Strassen, Eisenbahnlinien und Dämmen unter chinesischer Führung ab. Inzwischen haben sich sieben der neun spanischsprachigen Länder Südamerikas – unter ihnen Argentinien, Chile und Peru – der BRI angeschlossen. Von den sechs grössten Volkswirtschaften Lateinamerikas fehlen nur noch Brasilien, Mexiko und Kolumbien.
Es werden Abhängigkeiten geschaffen
Die engere wirtschaftliche Verflechtung mit China führt dazu, dass immer mehr prochinesische Interessengruppen entstehen, selbst in Kreisen, die ideologisch wenig mit der chinesischen KP am Hut haben. So drängt etwa die brasilianische Exportlandwirtschaft, deren Hauptabnehmer China ist, Präsident Bolsonaro zu einer Verbesserung der Beziehungen zu China. Ebenso gilt die chilenische Wirtschaftselite heute als prochinesisch. China ist inzwischen mit grossem Abstand vor den USA der wichtigste Handelspartner von Chile.
Daneben bearbeitet China die politischen, wirtschaftlichen und akademischen Eliten, um sie von der Überlegenheit des chinesischen politischen Systems zu überzeugen. Dies geschieht insbesondere mit bezahlten Einladungen zu Studienreisen und Konferenzen in China. Dabei wird versucht, Besucher zu überzeugen, dass das chinesische Entwicklungsmodell ohne Demokratie dem westlichen überlegen ist. Damit soll die Einparteiherrschaft legitimiert werden.
2017 kündigte Xi an, dass bis 2023 weltweit 15 000 Mitglieder von Parteien des ganzen politischen Spektrums nach China eingeladen werden sollen. Die chinesische Lobby-Arbeit kann durchaus schon Erfolge vorweisen. So hat etwa Pekings Kandidat Qu Dongyu bei der Wahl des Generaldirektors der Uno-Ernährungsorganisation FAO 2019 den Anwärter der Amerikaner ausgestochen, unter anderem dank den Stimmen der meisten Lateinamerikaner.
Vergessene Monroe-Doktrin
Das Land, das der Expansion Chinas am ehesten Gegensteuer geben könnte, sind natürlich die USA. Bereits 1823 hatte der amerikanische Präsident James Monroe die nach ihm benannte Doktrin formuliert, wonach die USA den ganzen amerikanischen Doppelkontinent als ihre Einflusssphäre betrachteten und im Falle von Einmischung fremder Staaten – damals waren die europäischen Kolonialmächte gemeint – mit eigenem Eingreifen drohten. Dies galt den Amerikanern bis zur Jahrtausendwende als Leitsatz – in der Region selbst oft kritisiert. Doch ausgerechnet bei der gegenwärtigen chinesischen Expansion scheint er in Vergessenheit geraten zu sein.
Besonders verheerend wirkte sich die Politik von Präsident Donald Trump aus. Er sah Lateinamerika in erster Linie als Problemregion, die den USA mit illegaler Einwanderung, Drogenhandel und Bandenkriminalität das Leben schwermachte. Statt die demokratischen Kräfte in der Region zu stärken, stützte er die zunehmend autoritären Präsidenten im nördlichen Zentralamerika in der Hoffnung, so die illegale Migration eindämmen zu können. Seine häufigen abschätzigen Bemerkungen über die südlichen Nachbarn führten dazu, dass bei der dortigen Bevölkerung das bereits lädierte Ansehen der USA in den Keller sank.
In Trumps vierjähriger Amtszeit besuchte er die Region gerade ein Mal, 2018 für den G-20-Gipfel in Buenos Aires. Demgegenüber hat Xi Jinping bereits zwölf lateinamerikanischen Ländern einen Besuch abgestattet, das sind mehr, als Trump und Barack Obama zusammen absolvierten.
Die Covid-Pandemie stärkte das Ansehen Chinas in der Region weiter. Während die USA und Europa sich weitgehend auf die Bekämpfung der Seuche zu Hause beschränkten, unterstützte Peking Lateinamerika schon früh mit grossen Lieferungen von Masken, Schutzanzügen und Test-Kits – später mit Impfstoff.
Unerlässlicher Partner des Westen
Lateinamerika ist keine Quantité négligeable. Mit einer Bevölkerung, die rund eineinhalb Mal so gross ist wie diejenige der EU, einem wachsenden Bruttoinlandprodukt von zurzeit rund einem Drittel desjenigen der EU sowie als weltweit bedeutender Rohstofflieferant empfiehlt es sich für den Westen als wichtiger strategischer Partner im Wettstreit zwischen den Demokratien und den autoritären Grossmächten China und Russland.
Viele lateinamerikanische Politiker aus allen Lagern sehen China angesichts des Desinteresses des Westens als pragmatischen und zuverlässigen potenziellen Verbündeten. Es ist allerdings eine Illusion, wenn sie glauben, dass sie mit Peking einen Dialog unter Gleichen führen können. China sucht in Lateinamerika Rohstoffe, Märkte und politische Unterstützung für sein globales Expansionsprojekt. Es betrachtet die verbündeten Länder nicht als gleichwertige Partner. Vielmehr versteht sich China als führende Nation, um die sich andere Länder wie Trabanten gruppieren sollen, wie es der Berkeley-Professor Gérard Roland kürzlich ausgedrückt hat.
Zugegeben, auch die Erfahrungen Lateinamerikas mit den USA als regionaler Vormacht waren keineswegs immer gut. Aber immerhin verbinden die beiden Regionen des amerikanischen Kontinents gemeinsame kulturelle und politische Werte.
Die jüngsten Erfahrungen zeigen zudem, dass die Zusammenarbeit mit den Chinesen keineswegs problemlos ist. So hat sich etwa ein gigantisches chinesisches Wasserkraftwerk in Ecuador als stark überteuertes Projekt mit grossen Umweltproblemen entpuppt. In Peru ist eine heftige Konfrontation zwischen lokalen Anwohnern und einer grossen chinesischen Mine im Gang, weil Letztere die vertraglich vereinbarten Kompensationen nicht eingehalten hat. Auch die rigiden Rückzahlungsbedingungen für chinesische Kredite lassen die Zusammenarbeit mit China nicht als vorteilhaft erscheinen.
Der wachsende Einfluss Chinas droht die noch jungen Demokratien in der Region zu unterminieren. Bereits sind in verschiedenen Ländern wieder zunehmende autoritäre Tendenzen auszumachen. Es ist zu befürchten, dass das chinesische Werben mit einem autoritären Entwicklungsmodell solchen Versuchen eine neue Basis für Legitimität geben wird. Verlangt ist als Antwort darauf eine westliche Politik, welche die Demokratie in der Region gezielt fördert und autoritäres Gebaren bestraft. Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in autoritären Regimen. Im Wettstreit der politischen Systeme kann der Westen auf ein demokratisches Lateinamerika als Verbündeten nicht verzichten.
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