Deutschland darf nicht als Spielball der Weltmächte enden
Washington hat es verstanden, die akute Bedrohung durch Russland und die Herausforderungen im Indopazifik zusammenzudenken. Berlin tut das nicht – und läuft Gefahr, als Spielball der Weltmächte zu enden. Ein Gastbeitrag von Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer.
Der russische Angriffskrieg führt uns brutal vor Augen, wie verletzlich die internationale Ordnung ist. Dass vermeintliche Gewissheiten – Frieden in Europa – von heute auf morgen zertrümmert werden können. Und einmal mehr gerät dabei die strategische Auseinandersetzung mit Asien in den Hintergrund.
Wie schon bei der Pandemie, versperrt uns eine drängende Herausforderung die Sicht auf andere Faktoren, die das 21. Jahrhundert bestimmen werden. Entsprechend kreisen die Debatten seit dem verhängnisvollen 24. Februar ausschließlich um die sicherheitspolitische Neuaufstellung Europas, beschränken sich auf Deutschlands direkte Nachbarschaft. Und Asien verblasst irgendwo im gedanklichen Nirgendwo.
Dieser deutsche Tunnelblick, die Provinzialität des Denkens, steht erkennbar im Kontrast zur Politik der US-Regierung. Den Vereinigten Staaten gelingt es deutlich besser, die akute Bedrohung durch Russland und die langfristigen Herausforderungen im Indopazifik zusammenzudenken. Die USA sind schon da, wo die EU mit Deutschland an der Spitze längst hätte sein müssen.
Exemplarisch ist das an dem klaren Bekenntnis zu Taiwan und den jüngsten Reisen des US-Präsidenten nach Südkorea und Japan zu sehen. Mehr noch, die Quad-Staaten – USA, Japan, Australien und Indien – verpflichten sich zu einem freien Indopazifik. Auch der Vorschlag eines Indo-Pacific Economic Framework (IPEF) lässt aufhorchen. Offenkundig findet die US-Politik nach der erratischen Trump-Phase zurück zum „Pivot to Asia“, dem bereits unter Obama proklamierten Schwenk nach Asien.
Gerade weil Russlands Überfall auf die Ukraine die multilaterale Ordnung infrage stellt, China aber gleichsam der systemische Rivale bleibt, ist der Dialog mit den asiatischen Staaten entscheidend für Stabilität und Wohlstand.
In Deutschland sucht man dagegen vergeblich nach strategischen Antworten auf ein chinesisch-russisches Tandem, auf die ungebrochene Attraktivität des chinesischen Entwicklungsmodells für Schwellenländer. Der Mini-Trip des Bundeskanzlers Ende April nach Tokio oder die deutsch-indischen Regierungskonsultationen bieten bestenfalls einen Anfang, genügen aber längst nicht. Außer, man glaubt an die segensreiche Wirkung von Symbolpolitik.
Aber nicht nur die Politik hat die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht im Blick, in der deutschen Öffentlichkeit interessiert sich praktisch niemand für die Implikationen der Wahlen in Südkorea, auf den Philippinen und in Australien. Ist schließlich ja auch das andere Ende der Welt, was geht’s mich an?! Gleiches lässt sich leider auch über die Lieferkettenproblematik, den Shanghai-Lockdown, die Taiwan-Konzentration bei Halbleitern und die praktisch nicht vorhandene Distanzierung vieler asiatischer Staaten zur verbrecherischen russischen Aggression sagen.
Und das, obwohl zahlreiche Experten mit beachtlicher Hartnäckigkeit darauf hinweisen, diese Entwicklungen endlich – endlich! – ernst zu nehmen. Aber „listen to the science“ gilt in Deutschland offenbar nur dann, wenn das Problem bereits vor der eigenen Haustür liegt, und nicht, wenn es sich Tausende Kilometer entfernt zusammenbraut.
Dabei droht nicht weniger als ein weiterer „Russland-Moment“, wenn erst wieder die Trümmer einer weiteren Fehleinschätzung unübersehbar sein werden. Etwa, wenn sich Allianzen als weniger tragfähig als erwartet erweisen, sich politische Prioritäten vermeintlich unangekündigt zu unseren Ungunsten verschieben oder die wirtschaftlich-technologische Abhängigkeit von China so groß wird, dass Deutschland und Europa nicht mehr die Regeln setzen können, sondern diktiert bekommen.
Wenig Wissen über asiatische Machtverhältnisse
Wir sind allein schon aus wirtschaftlichen Gründen darauf angewiesen, dass Europa sich nicht allein mit Europa beschäftigt. Die Ziele der Volksrepublik China bis 2049 sind für jeden nachlesbar. Und damit auch unsere zukünftigen Probleme: Wird sich, wie wir es im Westen erträumen, eine faire Globalisierung durchsetzen, die von Qualität und Innovation getragen wird – oder wird das von der KP regierte China künftig die Regeln des Welthandels diktieren können?
Daran anschließend, warum ist das Ceta-Abkommen mit Kanada nicht längst abgeschlossen? Führen wir eine ehrliche Diskussion über TTIP, oder setzen wir unseren Wohlstand durch peinliche Chlorhuhn-Debatten aufs Spiel? In den Leitlinien zum Indopazifik ist schließlich immerhin zu lesen: „Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass regelbasierter Freihandel zu Wohlstandsgewinnen auf beiden Seiten führt.“ Nur – wo bleibt die Umsetzung?
Selbstkritisch müssen wir festhalten, dass wir immer noch zu wenig über die Konflikte und Abhängigkeiten in Asien wissen; dass wir massive Probleme haben, die Kulturen überhaupt zu verstehen. Von den notwendigen Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden müssten, ganz zu schweigen. Dies ist umso bedauerlicher, als dass Deutschland im Rahmen der G-7-Präsidentschaft durchaus Impulse für eine differenzierte Asien-Strategie anbieten könnte.
Für Deutschland ist es höchste Zeit, den im Koalitionsvertrag angesprochenen „Ausbau unserer Beziehungen … mit wichtigen Wertepartnern“ in Asien voranzutreiben. Wenn es uns nicht gelingt, institutionell abgesicherte Partnerschaften zwischen den Ländern Asiens und Europas zu etablieren, gerne mit Deutschland als Vorreiter, endet unser Land, unser Kontinent als niedliches Museumsdorf, als Spielball anderer Länder.
Das muss nicht so kommen – aber dafür müssten wir erst unsere eigene Provinzialität, unseren Fokus auf die direkte Nachbarschaft überwinden. Wann, wenn nicht jetzt?
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