Dividing in Order To Unify

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US-Präsident Joe Biden appelliert an die Seele seines Landes. Von der Idealvorstellung, alle umarmen zu können, scheint er sich dagegen endgültig verabschiedet zu haben.

Es ist der Ort, an dem alles begann – für Amerika und auch für Joe Biden. Über den großen Bäumen vor der Independence Hall in Philadelphia ist die Sonne gerade untergegangen, eine Militärkapelle hat Rhapsody in Blue und Jesu, meine Freude gespielt, als die Glocke achtmal schlägt und der Präsident über einen roten Teppich ans Rednerpult schreitet. “Ich spreche heute zu Ihnen von einem heiligen Stück Land Amerikas”, sagt Biden an sein Publikum gerichtet – das weniger aus den einigen Hundert geladenen Gäste auf Klappstühlen besteht als aus den Menschen zu Hause vor den Fernsehern. Eine Primetime-Ansprache zum “fortwährenden Kampf um die Seele der Nation”, so hatte das Weiße Haus es angekündigt, und schon die ersten Minuten zeugen davon, wie wörtlich Biden diese Aufgabe nimmt.

Er sei hergekommen, sagt der Präsident, um “so deutlich, wie ich kann, über die Bedrohung zu sprechen, der wir gegenüberstehen, von der Macht, die wir in unseren eigenen Händen halten, um dieser Bedrohung zu begegnen, und von der unglaublichen Zukunft, die vor uns liegt, wenn wir uns nur dafür entscheiden”. Große Worte, aber sie passen zu diesem Ort, zu dieser Kulisse. Ein wenig wirkt es, als habe jemand versucht, ‘Demokratie’ als Bühnenbild zu entwerfen.

In dem Backsteingebäude hinter Biden, das an diesem Spätsommerabend in den Farben der US-Flagge rot und blau angeleuchtet wird, bewacht von zwei Marinesoldaten in Uniform, wurde die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776 unterzeichnet. Und ein paar Hundert Meter entfernt von dem Pult, an dem Biden steht, hielt er im Mai 2019 seine erste Rede als Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei – und versprach, Donald Trump zu besiegen.

Amerika müsse sich entscheiden

Es lässt sich deshalb kaum zu viel hineininterpretieren in die Entscheidung, diesen Termin ausgerechnet hier stattfinden zu lassen – und ausgerechnet jetzt. In zwei Monaten werden Teile des Kongresses neu gewählt, und bis zur nächsten Präsidentschaftswahl sind es dann nur noch zwei Jahre. Vieles deutet schon jetzt auf eine Neuauflage Biden gegen Trump hin. Der Präsident hat bereits zugesichert, er wolle noch einmal antreten, und so ist auch diese Rede eine Art Wahlkampfauftakt.

Biden spricht an diesem Abend kaum über die Wahl 2024. Der Name seines Gegners aber fällt durchaus, und das in einer Deutlichkeit, die er in den vergangenen Monaten meist vermieden hatte. “Donald Trump und die Maga-Republikaner stehen für einen Extremismus, der die Grundfesten unserer Republik bedroht”, sagt Biden. “Maga” ist die Abkürzung für Make America Great Again, es ist Eigenbezeichnung und Schlachtruf der Trump-Anhängerinnen zugleich.

Schon in den vergangenen Wochen war Biden sehr deutlich geworden, als er in Bezug auf Trump und dessen Unterstützer etwa von “Semifaschismus” sprach. Die Reaktion führender Republikaner, damit brandmarke er das halbe Land als Faschisten, scheint ihn nicht zu Zurückhaltung veranlasst zu haben. Amerika müsse sich entscheiden, sagt er an diesem Abend, ob es sich der Zukunft zuwenden oder von der Vergangenheit besessen sein wolle. Trump und seine Anhängerinnen respektierten weder die Verfassung noch den Willen der Bevölkerung, und ihre Radikalität “erschüttert unsere Republik in ihren Grundfesten”.

Unity, Einigkeit, diesen Begriff umschreibt Biden in dieser Rede meist, dabei ist es das zentrale Motiv, das ihn seit jenem ersten Auftritt in Philadelphia 2019 begleitet. Aber er scheint sich von jenem Ideal gelöst zu haben, für das er im Grunde ein ganzes Politikerleben lang gestanden hatte: Dass es möglich sei, eine solche Einigkeit parteiübergreifend zu finden, dass ein amerikanischer Präsident alle umarmen sollte. Denn die Realität, das wird gerade im Zuge der Ermittlungen gegen Trump und der unverhohlenen Gewaltandrohungen aus seinem Umfeld wieder deutlich, sieht derzeit so aus, dass ein signifikanter Teil der Bevölkerung schlicht nicht mehr erreichbar ist. Spricht man sich in diesen Zeiten für universelle demokratische Werte wie den Rechtsstaat aus, ist das eine politische Botschaft, die je nachdem mit Zustimmung oder Ablehnung aufgenommen wird.

Ein Präsident, der seine Form gefunden zu haben scheint

Biden versucht nicht länger, einen Kompromiss zwischen beiden zu finden. Und er deutet an, dass das eine Lektion ist, die ihm selbst nicht leichtfiel. “Während ich hier stehe, werden Demokratie und Gleichberechtigung angegriffen. Wir tun uns selbst keinen Gefallen damit, wenn wir so tun, als würde das nicht passieren.” In den bisherigen Monaten seiner Präsidentschaft war gerade aus den Reihen jüngerer Demokraten der Vorwurf gekommen, Biden und seine Regierung würden die Bedrohung durch den Trumpismus nicht klar genug benennen und einer längst widerlegten Illusion der Überparteilichkeit hinterhertrauern.

Seine Reaktion darauf wirkte zunächst nicht immer souverän. Lange rief er einerseits zu Vertrauen in die Institution des Supreme Court auf, bezeichnete das Gericht aber nach der Aufhebung des grundsätzlichen Rechts auf Schwangerschaftsabbrüche im Juni unter anderem als “extremistisch”. Eine Reizwortrhetorik, die die Gefahr barg, gerade bei jüngeren Nicht- und Vielleichtwählerinnen für Resignation und Abstumpfung zu sorgen. Aber gerade deren Stimmen wird Bidens Partei brauchen, um die Republikaner bei den Midterms und erst recht bei der Präsidentschaftswahl zu schlagen.

Nun scheint der Präsident, vielleicht auch bestärkt durch sinkende Benzinpreise und steigende Umfragewerte, seine Form gefunden zu haben. Der Mann, der da am Pult steht, wirkt nicht nur seiner Sache sicher, sondern auch seiner Strategie. Spalten, um zu einen, so könnte man sie nennen. Während Biden die einen verloren gibt, appelliert er umso eindringlicher an die anderen. “Ich werde unsere Demokratie mit jeder Faser meines Wesens verteidigen”, verspricht er, “und ich bitte jeden Amerikaner, sich mir anzuschließen.”

Biden will jene gewinnen, die noch nicht dem Trump-Kult verfallen sind

Das richtet sich zum einen an die (potenziellen) Wählerinnen und Wähler der Demokraten: Ich kämpfe für euch, und ich weiß, worauf es ankommt. Zum anderen an die laut Wahlforscherinnen steigende Zahl von republikanischen Wählerinnen, die Trumps mit jeder neuen Nachricht über potenziell strafbare Handlungen überdrüssiger wird. An sie wendet sich Biden noch direkter, als er sagt, nicht jeder Republikaner, nicht einmal die Mehrheit, sei mit der extremen Ideologie Trumps einverstanden. Es ist eine hingehaltene, aber nicht aufgedrängte Hand; wie viele sie ergreifen, dafür wird der November ein erster Test sein.

Die Reaktion aus der Republikanischen Partei zeugt davon, dass das empfindliche Punkte trifft. “Chefspalter”, twittert der Kongressabgeordnete Mark Green. Sein Kollege Marco Rubio teilt ein Foto von Biden am Rednerpult, auf dem dieser durch die rote Hintergrundbeleuchtung und seine hochgereckten Fäuste aussieht wie das Symbolbild eines Demagogen. “Ein blutroter Nazihintergrund”, empört sich der Fox-Moderator Tucker Carlson, einer von Trumps wichtigsten Verbündeten.

Tatsächlich wirkte der Bildausschnitt, den die Fernsehzuschauerinnen zu sehen bekamen, viel düsterer und unversöhnlicher als die Originalszene in Philadelphia. Ob das so gewollt war, sei dahingestellt. Klar ist aber: Diese Rede wollte nicht überreden und auch nicht überzeugen, über diesen Punkt ist Biden hinaus. Jetzt scheint er sich darauf zu verlegen, mit aller Kraft diejenigen für die kommenden Wahlen zu mobilisieren, die noch nicht an Trumps Kult verloren sind. Der Kampf um die Seele der Nation – für Biden beginnt er gerade noch mal ganz von Neuem.

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