Die US-Senatorin Kyrsten Sinema verlässt die Demokraten. Das ändert nichts an deren Mehrheit im Senat – und ist für Joe Bidens Regierung dennoch ein Rückschlag.
So richtig überrascht war niemand. Aber das Timing, das ist dann doch bemerkenswert. Gerade einmal drei Tage, nachdem der Demokrat Raphael Warnock im Bundesstaat Georgia die Stichwahl um den letzten offenen Sitz im US-Senat gewonnen hatte, gibt seine Kollegin Kyrsten Sinema ihren Austritt aus der Partei bekannt. “Ich werde auch künftig erscheinen und meine Arbeit machen, nur eben als Unabhängige”, sagte sie. Ihre Begründung: Sie habe nie so recht in eine politische Partei gepasst. “Der Titel ‘unabhängig’ spiegelt wider, wer ich immer gewesen bin.”
Dass ihr das gerade jetzt auffällt, ist natürlich interessant. Mitten ins kollektive Aufatmen der Demokratischen Partei angesichts der Tatsache, dass sie bei den Zwischenwahlen im November viel weniger Sitze verloren hatte als befürchtet und ihre Mehrheit im Senat sogar noch ausbauen konnte, platzt nun also die Nachricht, dass diese Mehrheit nicht so stabil ist, wie man hätte meinen können.
Zwar sind unter den 51 Senatorinnen und Senatoren, die den Demokraten im künftigen Kongress bis heute zugerechnet werden konnten, streng genommen auch jetzt schon zwei Nicht-Demokraten: Der ehemalige Präsidentschaftsbewerber Bernie Sanders aus Vermont ist ebenso als Unabhängiger gewählt wie sein Kollege Angus King aus Maine. Die beiden haben sich aber der Fraktion der Demokratischen Partei angeschlossen.
Fraktionsdisziplin hat einen anderen Stellenwert
Was Sinema angeht, ist das nicht so klar, und sie selbst scheint bewusst in der Schwebe zu lassen, in welchem Ausmaß sie ihre ehemalige Partei in Zukunft noch unterstützen wird. An den Fraktionssitzungen der Demokraten nahm sie auch bisher schon selten teil, in Zukunft wird sie das – anders als Sanders und King – wohl gar nicht mehr tun. An der Struktur des Senats werde sich nichts ändern, schreibt sie in einem Gastbeitrag für die Arizona Republic, die größte Zeitung ihres Heimatstaats. Aber sie lässt auch durchblicken, dass sie sich als einsame Vertreterin der politischen Mitte in einem kaputten System versteht – und diese Rolle im Senat künftig ausreizen dürfte: “Die US-Amerikaner fühlen sich zunehmend abgehängt von der starren Parteipolitik”, schreibt sie. Beide, Republikaner wie Demokraten, würden sich in ihren Ansichten immer weiter ins Extreme bewegen.
Sie habe in der Vergangenheit mit Vertreterinnen beider Seiten gut zusammengearbeitet und wolle das auch weiterhin tun, schreibt sie weiter. Genau darin dürfte das Problem für die Demokraten liegen – und es ist eines, was sie nur zu gut kennen. Fraktionsdisziplin hat in den USA noch mal einen anderen Stellenwert als in Deutschland, erst recht bei so knappen Mehrheitsverhältnissen, wie sie nun im Senat herrschen. In den zurückliegenden Jahren stimmte Sinema in den allermeisten Fällen mit ihrer damaligen Partei. Nur so konnte diese Gesetze durchbringen, etwa zur Infrastrukturreform. Die Ausnahmen von dieser Regel aber hatten es in sich.
Als es etwa darum ging, das nötige Quorum von Stimmen für bestimmte Abstimmungen im Senat zu ändern, weigerte sie sich. Das hätten die Demokraten dringend gebraucht, um etwa die Wahlrechtsreform durchzusetzen, die Joe Biden seinen Wählerinnen in Aussicht gestellt hatte, oder um das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche als Bundesgesetz festzuschreiben, nachdem der Supreme Court seine frühere Entscheidung dafür widerrufen hatte. Auch für einen höheren Mindestlohn wollte sie nicht stimmen, ebenso wenig für Bidens ursprüngliche Version seiner Build-Back-Better-Reformen, darunter wichtige Sozialmaßnahmen wie eine Verlängerung des Kindergelds.
Unberechenbarkeit bedeutet Macht
Weil Sinema ihre Ausschussposten behalten will, wird sie grundsätzlich auch weiter mit der Fraktion der Demokraten kooperieren müssen. Und sie wird, wie sie im Gespräch mit Politico versicherte, auch nicht zur Gegenseite überlaufen. Das bedeutet: Die Republikaner bleiben mit 49 Sitzen so oder so in der Minderheit, auch in den einzelnen Gremien des Senats – das war der entscheidende Vorteil jenes 51. Sitzes, den Warnock in Georgia nun holte und der es den Demokraten etwa ermöglicht, ohne Verzögerungen Kandidaten für wichtige Ämter in Behörden und Gerichten zu bestätigen. Bei solchen Ernennungen hat Sinema bisher immer mitgezogen, und bis jetzt lässt sie nicht erkennen, dass sie das ändern will.
Ihr Austritt ist für Joe Biden und seine Regierungspartei dennoch ein unangenehmer Rückschlag. Indem sie sich offiziell der Fraktionsdisziplin entzieht, wird sie noch unberechenbarer sein als bisher. Und Unberechenbarkeit bedeutet bei knappen Mehrheitsverhältnissen immer eines: Verhandlungsmacht. Die Republikaner dürften nun heftig um ihre Stimme in einzelnen Abstimmungen werben, mit führenden Parteivertretern im Kongress wie dem Senatsführer Mitch McConnell pflegt Sinema ein freundschaftliches Verhältnis.
Über noch mehr Aufmerksamkeit als bisher kann sich noch eine weitere Person freuen, der die Demokraten in der jüngsten Vergangenheit weitaus öfter im Stich ließ als seine Kollegin aus Arizona. Auch Senator Joe Manchin will die Abstimmungsregeln nicht ändern und blockierte über Monate hinweg Bidens Sozial-, Klima- und Wirtschaftsreformen, bis von ihnen nur noch ein Bruchteil übrig war. Je nachdem, wie Sinema sich verhält – wenn sie etwa bei einem einzelnen Gesetzentwurf die 49 Stimmen der Republikaner um ihre eigene ergänzt – werden sich alle Blicke und Bemühungen auf Manchin richten, damit der es ihr nicht gleichtut. Und ihm dürfte auch im Hinblick auf seine mögliche Wiederwahl in zwei Jahren jede weitere Gelegenheit willkommen sein, die Biden-Regierung vor sich herzutreiben.
Sinemas Motiv für all das könnte schlicht sein, dass sie bei der nächsten Kongresswahl 2024 kaum Aussichten darauf hätte, von den Demokraten noch einmal nominiert zu werden. Ihre Umfragewerte sind schlecht, und wegen ihrer Verweigerungshaltung in der Fraktion und ihrer hohen Spenden von großen Pharmakonzernen ist sie in der Partei schon seit Langem verschrien. Tritt sie künftig als Unabhängige an, macht es das für die Demokraten schwer: Anstatt, dass man sie in der Vorwahl der Partei mit einem anderen Kandidaten oder einer Kandidatin schlagen könnte, müssen sie nun fürchten, dass Sinema ihnen dann bei der eigentlichen Wahl im November 2024 einen Teil der Stimmen abzieht – und die Republikaner den Sitz gewinnen, ausgerechnet in einem so wichtigen Staat wie Arizona.
Für Biden beginnt das neue Jahr, wie das alte begonnen hat: mit der Aussicht auf zähe, nervraubende Verhandlungen. Und mit der Gewissheit: Nach der Wahl ist vor der Wahl – egal, wie gut sie auch lief.
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