Die Amerikaner lassen Kritik an ihrer protektionistischen Wirtschaftspolitik abprallen: Die Europäische Union sei heuchlerisch.
Jahrzehntelang haben die US-Amerikaner den weltweiten Freihandel gepredigt. Doch nun pumpen sie unter dem Demokraten Joe Biden plötzlich 370 Milliarden Dollar an staatlichen Beihilfen in den heimischen Energiesektor, weitere 280 Milliarden fließen in die Halbleiterindustrie. Die überraschten Europäer kritisieren das scharf, doch die Amerikaner lässt das kalt: Die Europäer sollten bitte aufhören zu heulen, wie das New York Magazine jüngst schrieb, und endlich ihr eigenes Wirtschafts- und Gouvernance-Modell auf Vordermann bringen.
“Hyperheuchlerisch” verhalte sich die Europäische Union, sagte der demokratische Senator Joe Manchin vor Kurzem beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Die Amerikaner verteidigten in der Ukraine die Sicherheit Europas, da müsse für die EU doch nur recht sein, was für die schützende Supermacht gut ist. Sein Rats- und Parteifreund Chris Coons erinnerte daran, Europa, insbesondere Deutschland, hätte sich in eine zu starke Abhängigkeit von russischem Gas begeben. Nun litten die Europäer an den Folgen, wegen der hohen Energiepreise sei ihre Industrie nicht mehr konkurrenzfähig.
Selber schuld, Europäer: zu viel Austerität, zu niedrige Löhne
Geradezu diplomatisch nimmt sich die Kritik der beiden moderaten Demokraten gegenüber Kommentaren aus dem linken Meinungsspektrum aus. Die EU habe eine grundfalsche Wirtschaftspolitik betrieben, befand kürzlich das New York Magazine. Besonders nach der Finanzkrise 2008 hätten die Euro-Länder den Binnenkonsum gebremst, durch Austeritätspolitik, durch das Drücken der Löhne, durch die Lücken in der gemeinschaftlichen Fiskal- und Industriepolitik.
Die EU habe sich deswegen einseitig auf das Exportgeschäft spezialisiert, wieder insbesondere Deutschland. Yakov Feygin vom kalifornischen Thinktank Berggruen Institute sagte dem Magazin, die Europäer sollten sich weniger auf wertschöpfungs- und energieintensive Exportindustrien fokussieren und stattdessen mehr Einkaufszentren bauen, sprich: den Binnenkonsum ankurbeln und die Energiepreise senken – auch mit Atomkraft, von der sich die Europäer überhastet verabschiedet hätten.
Der neue amerikanische Protektionismus ist gemäß dieser Lesart nicht das Problem, sondern vielmehr die Lösung. Die USA seien einmal mehr das leuchtende Beispiel, dem die EU folgen sollte. Die protektionistischen Gesetze namens Inflation Reduction Act und Chip and Science Act wären zwei Chancen für den alten Kontinent, seine politischen Strukturen zu erneuern und weiterzuentwickeln.
Ist der Freihandel tot?
Der internationale Freihandel ist solchen Stimmen zufolge tot. Diesen Befund spricht auch Bidens Handelsbeauftragte Katherine Tai inzwischen deutlich aus. Dafür werden oft drei Faktoren ins Feld geführt. Erstens müssten die USA aus Sicherheitsüberlegungen ihre Industrie vor China schützen. Zweitens stehe die amerikanische Politik unter Druck, die ungleiche Reichtumsverteilung zu entschärfen, indem sie Stellen für wenig Qualifizierte schafft. Drittens habe die Pandemie belegt, dass staatliche Wirtschaftspolitik sinnvoll und erfolgreich sein kann.
Auch viele Republikaner haben sich längst vom Wirtschaftsliberalismus losgesagt. In Donald Trump war es einer der ihren, der den Konfrontationskurs gegen China eingeschlagen hat. Es war ebenfalls Trump, der die Frustration der amerikanischen Arbeiterschaft in politische Gewinne für die Partei ummünzte. Und auch Republikaner lassen sich gern bei der Eröffnung von Fabriken in ihren Heimatstaaten fotografieren, die dank staatlicher Beihilfen und Steuerrabatte gebaut werden. Änderungen am protektionistischen Charakter von Bidens Gesetzen sind zumindest im aktuellen Kongress nicht zu erwarten.
In den Abgesang auf den Freihandel mögen indes nicht alle einstimmen, und in einschlägigen Publikationen erfreuen sich mahnende Texte mit historischen Zitaten des Ökonomen Adam Smith gerade großer Beliebtheit. Das konservative American Institute for Economic Research etwa kritisiert Bidens Wirtschaftspolitik als staatsgläubigen Irrweg, der zu weltweiten Effizienz- und Wohlstandsverlusten führe. Nur in Nebensätzen wird bisweilen erwähnt, dass Biden damit auch das transatlantische Bündnis strapaziere – oft begleitet von der Bemerkung, wenigstens seien die US-amerikanischen Anreize effizienter gestaltet als die stets viel zu bürokratischen europäischen Lösungen.
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