Joe Biden Is Far from Finished – And He’s Proving That in Kyiv, Too

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Der 80-jährige US-Präsident will offensichtlich eine zweite Amtszeit. Seine gefährliche Reise in die Ukraine zeigt: Er sieht den Kampf für die Demokratie als Lebensaufgabe

Der Mann hat in seinem Leben mehr erreicht, als er erwarten durfte. Eigentlich könnte er am langen Presidents-Day-Wochenende bei schönem Wetter mit seiner Frau die Fahrräder aus der Garage des Strandhauses holen und durch den Cape Henlopen State Park radeln. Oder seine sieben Enkel besuchen. Mit den Schäferhunden Major und Commander im Garten seines Anwesens in Wilmington spielen.

Stattdessen hat sich Joe Biden nach einer Date-Night mit Ehefrau Jill beim angesagten Italiener in Washingtons Stadtteil Bloomingdale in der Nacht zum Sonntag vom Weißen Haus zur Luftwaffenbasis Andrews bringen lassen, wo er gegen 4.00 Uhr morgens die Air Force One für eine ebenso beispiellose wie hochriskante Reise über den Atlantik nach Kiew besteigt: Schon öfter sind amerikanische Präsidenten überraschend in Kriegsgebiete geflogen. Aber in ein Land, wo die Amerikaner keine Truppenpräsenz haben – das gab es noch nie.

Monatelang hat eine Handvoll Berater streng geheim die Kommandoaktion geplant und auf die Gefahren hingewiesen. Doch Biden, so heißt es im Weißen Haus, habe das Risiko bewusst auf sich genommen. “Er will demonstrieren und nicht nur erklären, dass wir fest an der Seite der Ukraine stehen”, sagte Sicherheitsberater Jake Sullivan, der den Präsidenten bei der Mission begleitete.

Im vergangenen November ist er 80 Jahre alt geworden. Doch der US-amerikanische Präsident wirkt kämpferischer denn je. “Wir sind noch nicht fertig”, meinte er vor zwei Wochen bei der “State of the Union”, breitete ein ambitioniertes Regierungsprogramm aus und drängte die Parlamentarier: “Lasst uns den Job zu Ende bringen!”

Der “Job”: In Bidens Augen geht es heute um nicht weniger als die Rettung der Demokratie in den USA und die Verteidigung der Freiheit gegen autokratische Regime anderswo auf dem Globus: “Jede Generation von Amerikanern hat Momente erlebt, in denen sie ihre Demokratie schützen und verteidigen muss”, mahnt er. “Nun sind wir an der Reihe.”

So redet niemand, der ans Aufhören denkt. Und tatsächlich sind sich die meisten Beobachter in Washington einig: Biden strebt ab 2024 eine zweite Amtszeit an. “Man muss keinen Wahrsager fragen”, schreibt die Kolumnistin Maureen Dowd in der New York Times. “Joe Biden tritt wieder an!” Die lakonische Feststellung ist bemerkenswert: Dowd und mehrere ihrer Kolleginnen und Kollegen hatten auf denselben Kommentarseiten in den vergangenen Wochen leidenschaftlich gefordert, dass der Präsident in zwei Jahren abtreten solle.

Warten auf den Zeitpunkt

Biden selbst schweigt bisher zu seinen Ambitionen. Eigentlich wollte er sich um den Jahreswechsel erklären. Doch dann kochte die Affäre um seine verschlampten geheimen Regierungsdokumente hoch. Offenbar wollen seine Berater erst einmal etwas Gras über die Sache wachsen lassen. Es wird wohl März oder April.

Doch bei einem kleinen Parteitag der Demokraten in Philadelphia Anfang Februar gab es schon einmal einen Vorgeschmack. “Hallo, Demokraten!”, rief der Präsident aus. “Four more years! Four more years”, schallte es zurück. Nach den unerwarteten Erfolgen seiner Partei bei den Zwischenwahlen erlaubte sich der Redner einen kleinen politischen Siegestanz. Stolz zählte er seine Erfolge vom Infrastrukturgesetz über die niedrigen Arbeitslosenzahlen bis zur angestrebten Senkung der Medikamentenkosten auf. “Ich höre aus guten Gründen keinerlei Spekulationen über irgendjemanden, der in unserer Partei gegen ihn antreten will”, sagte Phil Murphy, der Gouverneur von New Jersey. “Was ich hier sehe, ist ein Kerl, der immer noch in Bestform ist.”

Magere Zustimmungswerte

Die demonstrative Unterstützung der Demokraten für Biden kontrastiert nicht nur mit kritischen Äußerungen aus der Partei zu dessen Person noch vor wenigen Wochen. Sie widerspricht auch dem öffentlichen Stimmungsbild. In Umfragen kommt der Präsident auf magere Zustimmungswerte um 42 Prozent. Von den Vorgängern wurde zur Halbzeit nur Donald Trump schlechter beurteilt. Befragt man alleine die Wähler der Demokraten, erklären zwar 77 Prozent, dass Biden viel erreicht habe – doch für die Zukunft wünschen sich 58 Prozent einen anderen Kandidaten. Eigentlich ist dies ein klares Meinungsbild.

Dass trotzdem alles auf eine Wiederholung des Duells Bidens mit Donald Trump von 2020 hindeutet, führt David Graham von The Atlantic auf ein Paradoxon zurück: “Biden wird so lange antreten, wie er keine plausible Alternative sieht. Aber solange er antritt, kann unmöglich eine Alternative entstehen.” In Abwandlung des Begriffs “Catch-22”, der eine Zwickmühle beschreibt, spricht Graham von der “Catch-24”-Situation der US-Demokraten.

Tatsächlich scheint Biden davon überzeugt zu sein, dass er am besten das Land versöhnen, die verlorene Arbeiterschaft für seine Partei zurückgewinnen und die Demokratie gegen rechte Zersetzungsversuche verteidigen kann. Der Wahlerfolg gegen Trump und das unerwartet gute Resultat der Midterms im November scheinen dem Mann, der eine beeindruckende Lebensgeschichte und ein halbes Jahrhundert Kongresserfahrung mit sich bringt, recht zu geben. Wenn der 80-Jährige mit der Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Nase aus dem Hubschrauber klettert und an den wartenden Reportern schmunzelnd vorbei in Richtung Westflügel des Weißen Hauses stakst, hat man zudem den Eindruck, dass ihm der mächtigste Job der Welt wirklich Spaß macht.

“Ich wäre ein guter Präsident”

Im Grunde hat er sein ganzes Leben darauf hingearbeitet. “Meine Frau sah mich immer am Supreme Court”, sagte er 1974 zum Washingtonian: “Aber ich weiß, dass ich ein guter Senator bin und ein guter Präsident wäre.”

Damals war Biden 31 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor war er jüngster Senator aller Zeiten geworden. Kurz darauf verlor er seine Frau Neilia und die 18 Monate junge Tochter Amy bei einem tragischen Autounfall. Der Witwer kümmerte sich zunächst alleinerziehend um seine beiden Söhne und pendelte täglich 150 Kilometer zwischen Wilmington und Washington hin und her. Dann lernte er seine heutige Frau Jill kennen, die er 1977 heiratete.

Zweimal bemühte er sich vergeblich um die Präsidentschaftskandidatur. Als Vizepräsident wollte er sich im dritten Anlauf 2016 für die Nachfolge von Barack Obama bewerben. Doch dann warf ihn der Krebstod seines Sohnes Beau aus der Bahn. Vier Jahre später aber schaffte er, was Hillary Clinton misslungen war: Er besiegte Donald Trump.

Keine Nachfolge

Die einzigartige Lebensgeschichte mag erklären, weshalb sich der Mann im Weißen Haus von Umfragen und Kritikern nicht beeindrucken lässt. Zudem drängt sich keine überzeugende Alternative auf. Die natürliche Nachfolgerin, Vizepräsidentin Kamala Harris, hat bisher keinerlei politische Spuren hinterlassen. Sie gilt inzwischen als Totalausfall.

Andere denkbare Kandidaten haben ein ähnliches Profil wie Biden, aber weniger Bekanntheit und Ausstrahlung. Die TV-Politsatire-Sendung Saturday Night Live brachte kürzlich einen Spot im Stil eines Horrorfilms, bei dem sich Wähler vor einer erneuten Biden-Kandidatur gruseln. Dann begegnen ihnen die Alternativen von Pete Buttigieg bis zu Hillary Clinton mit blutiger Vampirmaske. “Warum eigentlich nicht Biden?”, fragt nach einer kurzen Pause eine junge Frau.

Dagegen spricht vor allem eins: Bidens Alter. Schon jetzt ist er der älteste US-Präsident aller Zeiten. Bei einer Wiederwahl stünde er kurz vor dem 82. Geburtstag, am Ende der nächsten Amtszeit wäre er 86. Zwar hat er gerade seinen jährlichen Gesundheits-Check-up absolviert, und sein Leibarzt Kevin O’Connor hat bescheinigt, dass der 1,83 Meter große und 80 Kilogramm schwere Senior, der keinen Alkohol trinkt und nach eigenen Angaben fünfmal in der Woche körperlich trainiert, “gesund” und “kraftvoll” ist.

Öffentliche Verwechslungen

Doch der öffentliche Eindruck ist bisweilen anders. Da verhaspelt sich der Mann, der als Kind stotterte, öfter als früher. Er hustet häufig und geht steif. Insgesamt wirkt er manchmal etwas unkonzentriert. “Ich habe einen Frosch im Hals”, begann er einen Auftritt vor 250 Bürgermeistern im Weißen Haus. Biden war bestens gelaunt und genoss sichtlich die Gesellschaft der meist pragmatischeren Kommunalpolitiker. “Ihr wisst, wie man Sachen hinkriegt”, schmeichelte er seinen Zuhörern, um alsbald von Anekdote zu Anekdote zu mäandern. Einige seiner Sätze endeten im Nirwana, und die Nummer der Hotline des Weißen Hauses musste ihm souffliert werden: “Ich habe sie vergessen.”

So geht das öfter bei Bidens öffentlichen Terminen. Mal verwechselt er den Vornamen eines engen politischen Weggefährten, mal geraten ihm ein paar Zahlen durcheinander. Und manchmal werden aus “Experten” “Exporte”.

Eine Generationenfrage

Das alles wirkt im Vergleich zu Trumps monströsen Lügen wenig dramatisch. Doch Berater der Demokraten sorgen sich, wie ein nuschelnder oder fahriger Biden in TV-Duellen mit der 29 Jahre jüngeren Nikki Haley oder dem 36 Jahre jüngeren Ron DeSantis herüberkäme. “Nicht Amerika hat den Zenit überschritten, sondern seine Politiker”, feuerte Haley gegen Trump und Biden.

“Schauen Sie mich an!”, bürstet Biden derweil alle Fragen nach seiner Befähigung für eine zweite Amtszeit ab. Dabei dürfte ihm die Problematik sehr bewusst sein. Als 29-jähriger Nobody hatte er nämlich 1972 in seinem Heimatstaat Delaware frech Senator Caleb Boggs herausgefordert – und er gewann.

Am Morgen nach dem Wahltag versuchte die New York Times, ihren Lesern den Sensationserfolg des unbekannten Newcomers zu erklären, dessen jüngere Schwester Valerie mit Freunden von der Uni eher hemdsärmelig den Wahlkampf gemanagt hatte: “Bidens Enthusiasmus inspirierte seine Unterstützer”, schrieb das Blatt damals. “Seine Energie stand im tagtäglichen und offensichtlichen Kontrast zu der seines 63-jährigen Gegenspielers.”

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