This Man Wants To Lead a New Workers’ Movement

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In den USA legt sich der Gewerkschafter Shawn Fain gerade mit den Bossen mehrerer Autokonzerne gleichzeitig an. Ihm geht es längst um mehr als ein paar Dollar.

Wer ist Shawn Fain? Und was hat er vor? Diese Fragen dürften die Chefs der Detroiter Autohersteller zurzeit schwer beschäftigen. Der Mann aus Kokomo, einem 60.000-Einwohner-Ort im Bundesstaat Indiana, war bis vor Kurzem den meisten Amerikanern kein Begriff. Fain, der mit seiner Fünfzigerjahre-Brille eher aussieht wie ein Buchhalter, ist der Chef der mächtigen United Auto Workers (UAW) – der 400.000 Mitglieder starken US-Autogewerkschaft. Er führt derzeit 13.000 UAW-Mitglieder in einem historischen Streik an. Noch nie zuvor hat die Gewerkschaft alle Big Three, alle drei großen US-amerikanischen Autobauer – Ford, General Motors und Stellantis, früher Chrysler – gleichzeitig bestreikt.

Vor dem Wochenende kündigte Fain eine drastische Ausweitung des Streiks an. Nun sollen auch Arbeiter bei 38 Zulieferbetrieben von General Motors und Stellantis ihre Arbeit niederlegen. Ford hat Fain zunächst verschont, weil sich der Konzern verhandlungsbereit gezeigt habe.

Die Forderungen, die der Gewerkschaftsboss auf den Tisch gelegt hat, sind ehrgeizig: eine Erhöhung der Stundenlöhne um 40 Prozent, eine Verkürzung der Arbeitswoche, die Wiedereinführung einer garantierten Betriebsrente. Vor allem aber will Fain die Abschaffung des sogenannten Zweistufensystems. Dieses wurde 2007 eingeführt und besagt, dass neu eingestellte Arbeitnehmer nicht nur deutlich niedrigere Einstiegslöhne bekommen, sondern auch keinen Anspruch auf dieselbe Vergütung und Sozialleistungen haben wie ihre Kollegen, die vor dem Stichtag eingestellt worden sind. Nur so könnten die Detroiter Autobauer im Wettbewerb mit den ausländischen Herstellern bestehen, deren Belegschaft nicht gewerkschaftlich organisiert ist.

Toyota, aber auch Daimler und BMW wählten für ihre Fabriken gezielt Standorte, wo die UAW traditionell keine Chance hatte, die Belegschaft zu organisieren. Für Fain, der damals als Elektriker im Chryslerwerk in Kokomo tätig war, kam das einem tarifpolitischen Selbstmord gleich, wie er damals in einem Brief an die UAW-Oberen schrieb, der an die Medien durchsickerte. Wenn die Gewerkschaft sich auf diese Kürzungen einließe, dann könne sie sich auch “gleich in den Kopf schießen”.

UAW-Reformer bekommen eine Chance

Fain, der gerne den abgegriffenen Lohnzettel seines Großvaters zeigt, der ebenfalls bei Chrysler arbeitete, war damals der Gewerkschaftsführer des Local 1166, das für das Werk in Kokomo zuständig war. Als er seine Mitglieder dazu brachte, gegen den Tarifabschluss zu stimmen, war das ein Akt der Rebellion. Damals war die UAW längst gefangen in einem streng hierarchischen System, in dem die Gewerkschaftsspitzen weitgehend im Verborgenen mit den Konzernchefs die Verträge verhandelten.

Fains Aufstieg innerhalb der UAW war deshalb alles andere als geradlinig. Mal versuchten ihn die Gewerkschaftsbosse durch eine Beförderung ruhigzustellen, mal wurde er demontiert. Was der UAW schwer schadete, kam Fain zugute: Die vorherigen UAW-Bosse stellten sich als hochkorrupt heraus. Es ging um Millionenbeträge, um Luxusvillen, teure Reisen. Das US-Justizministerium ermittelte. Nicht nur wurden gleich zwei UAW-Präsidenten verurteilt, sondern auch die Gewerkschaftsverwaltung wurde einem staatlichen Aufpasser unterstellt. Für die einst so stolze Gewerkschaft eine enorme Demütigung.

Im Zuge der Ermittlungen kamen auch interne Mitteilungen von Chrysler Buchhaltern zutage, in denen es hieß, man wolle die Gewerkschaftsbosse “satt, dumm und zufrieden” halten. Der Skandal sorgte dafür, dass die Reformer, die lange Jahre vergeblich versucht hatten, die Organisation aufzuräumen, eine Chance bekamen. Eine wichtige Neuerung: Die Mitglieder durften ihre obersten Vertreter direkt wählen. So gewann Fain im vergangenen Jahr, wenn auch nur knapp, die Wahl zum Präsidenten.

Ein Ende der Gier der Unternehmen

Fains freundliches Buchhalter-Aussehen täuscht, wie die Konzernchefs jetzt zu spüren bekommen. Das erste Gegenangebot von Stellantis etwa warf er demonstrativ in den Müll. “Wir haben es satt, in einer Welt zu leben, die Profit über Menschen stellt, wir haben es satt, die Reichen immer reicher werden zu sehen, während wir schauen müssen, wie wir über die Runden kommen”, sagte Fain kürzlich in einer Ansprache. Der 54-Jährige und seine Gewerkschafter würden “like hell” kämpfen, um der Gier der Unternehmen ein Ende zu bereiten.

Fain, ein gläubiger Christ, bedient sich gerne aus der Bibel (eine alte Bibel seiner Großmutter hat er so gut wie immer bei sich). Aber er zitiert auch den Black-Panther-Führer Malcolm X. Ihm geht es um mehr als Lohnerhöhungen, das macht er klar. Er steht in der Tradition von Walter Reuther, der die UAW von 1946 bis 1970 führte. Wie Reuther geht es Fain nicht nur um einen besseren Tarifvertrag für seine Mitglieder, sondern darum, eine breitere US-amerikanische Arbeiterbewegung anzuführen.

In den Fünfzigerjahren waren es die Autoarbeiter, die dank des Nachkriegsbooms und Reuthers Tarifabschlüssen in die Mittelschicht aufstiegen. Aus der haben sie sich in den vergangenen Jahren zunehmend wieder verabschieden müssen.

Die größte Herausforderung steht Fain erst bevor

Die Forderungen der UAW klingen drastisch, doch die Gewinne der Big Three sind zwischen 2013 und 2022 um mehr als 90 Prozent gestiegen – um 250 Milliarden Dollar, wie das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsforschungsinstitut EPI errechnete. Die Vergütung für die CEOs stieg in dem Zeitraum um 40 Prozent und die Ausschüttung an die Aktionäre belief sich auf 66 Milliarden Dollar. Dagegen sind die durchschnittlichen Reallöhne der Bauarbeiter seit jenem Zugeständnis der UAW im Jahre 2007 um 19 Prozent gefallen.

Fains größte Herausforderung ist die Umstellung seiner Branche vom Verbrennermotor auf Elektromobilität. Dazu sind weit weniger Arbeitskräfte notwendig. Um die Bedingungen für die neuen Fabriken mitbestimmen zu dürfen, müsste die UAW die neuen Fabriken und Belegschaften organisieren. Allein die gesetzlichen Bedingungen dafür machen dies zu einem schwierigen Unterfangen. Es ist kein Zufall, dass nur noch sechs Prozent der Arbeitnehmer in der privaten Wirtschaft in den USA gewerkschaftlich organisiert sind. Auch das macht den derzeitigen Tarifkampf so wichtig für die UAW. Denn nur mit einem guten Abschluss kann sie beweisen, dass es für die Arbeitnehmer in Werken ohne Tarifbindung von Vorteil wäre, für eine Mitgliedschaft zu kämpfen.

Dabei dürfte Fain auch Tesla und den notorisch gewerkschaftsfeindlichen CEO des E-Autobauers Elon Musk im Visier haben. In einer Rede schon vor seiner Wahl sagte er: “Man hat das Gefühl, dass wir uns so weit zurückentwickelt haben, dass wir kämpfen müssen, nur um die Vierzigstundenwoche wieder einzuführen. Warum ist das so? Nur damit irgendein Arschloch genug Geld verdienen kann, um sich auf den Mond zu schießen?”

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