Eine Waffenruhe in Nahost ist nah, versichert US-Präsident Joe Biden. Auch seinen Wählern. Denn für ihn wird Israels Premier Benjamin Netanjahu zunehmend eine Belastung.
Über Politiker, die sich lange kennen, werden gerne Anekdoten erzählt. US-Präsident Joe Biden und Israels Premier Benjamin Netanjahu kennen sich seit mehr als 40 Jahren. Viel Stoff für Anekdoten. In Washington, D. C., wird dieser Tage immer wieder eine erzählt, die Biden selbst einmal öffentlich gemacht hat. 2014 sagte Biden bei einer Rede vor dem Jüdischen Verband Nordamerikas, dass er und Netanjahu “immer noch Kumpel” seien, wenn auch mit einer etwas komplizierten Beziehung. Biden, damals noch Vizepräsident, beschrieb das über ein Foto, das er einmal für Netanjahu mit den Worten unterschrieben hatte: “Bibi, ich bin mit nichts einverstanden, was du sagst, aber ich liebe dich.”
Zehn Jahre später steht die Liebe zwischen den beiden vor dem Aus. Öffentlich würde das der Präsident so nie formulieren. Die USA sind der wichtigste Verbündete Israels, Biden hat das nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober mehr als deutlich gemacht. Er reiste nach Israel, er telefoniert fast wöchentlich mit Netanjahu, und ohne die USA wird es eine Lösung in diesem Krieg nicht geben können. Der Comedian Jon Stewart formulierte es gerade in der Daily Show auf seine Art: Die USA seien schon immer der Notfallkontakt Israels gewesen. Aber nun sei es doch an der Zeit für etwas moralische tough love. Mehr Härte also gegenüber Israel. Mehr Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung.
Biden braucht einen Deal zwischen Israel und der Hamas
Für Bidens Verhältnisse wird der Ton auch rauer. Nicht so sehr, wie es viele Linke und muslimische Bürger im Land fordern, aber spürbar. “Übertrieben” sei die Reaktion Israels im Gazastreifen, sagte Biden Anfang Februar. Seine Vizepräsidentin Kamala Harris sagte jüngst auf der Münchner Sicherheitskonferenz: “Israel muss mehr tun, um Zivilisten zu schützen.” Gleichzeitig versichert Biden Netanjahu, dass rund um die Uhr daran gearbeitet werde, die von der Hamas verschleppten verbliebenen Geiseln zu befreien. Es ist das Argument, mit dem die USA zuletzt in der vergangenen Woche erneut im UN-Sicherheitsrat eine Resolution für eine Feuerpause blockiert hatten.
Am Montag hat Biden nun Hoffnungen auf eine baldige Feuerpause im Gazastreifen gemacht. Auf die Frage, wann eine entsprechende Vereinbarung beginnen könnte, sagte der Präsident. “Ich hoffe, bis zum Ende des Wochenendes.” Man sei nah dran, sagte Biden. Eine Einigung aber gebe es noch nicht. Der US-Präsident ist in einem Dilemma: Er braucht Netanjahu, um einen Deal zwischen Israel und der Hamas zu erreichen. Und diesen Deal brauchen vor allen anderen die Menschen in Nahost, um das Leid zu beenden. Aber auch Biden braucht ihn, um das Thema irgendwie aus seinem Wahlkampf herauszuhalten.
Biden hat die Vorwahl der Demokraten in Michigan erwartbar gewonnen. Doch ein nicht unwesentlicher Anteil der Wählerinnen und Wähler stimmte für “uncommitted”, was bedeutet, dass sie sich für keinen Kandidaten auf dem Wahlzettel entschieden hatten. In dem Bundesstaat lebt die größte Community arabischer Amerikaner, mehr als 310.000 Einwohner sind aus dem Nahen Osten oder Nordafrika. Biden braucht diese Gruppe im Wahlkampf, genau wie die jüngeren linken Wähler, die extrem kritisch auf Bidens Nahost-Politik blicken. Auch die eher Biden zugeneigte schwarze Wählerschaft sympathisiert laut Umfragen mehr mit Palästinensern als weiße und hispanische Bürgerinnen und Bürger. Viele von ihnen halten nichts mehr von Bidens Israel-Politik. In New York, Washington und anderen Städten hängen Plakate in Fenstern, auf denen eine Waffenruhe und ein freies Gaza gefordert wird. Bei Demos gegen die Politik der US-Regierung sind seit Wochen “Genocide Joe”-Rufe zu hören. Biden, der Völkermörder.
Bibi, das “Arschloch”
Zu einem wirklichen Politikwechsel hat das bei Biden bislang nicht geführt. Die Treue des 81-Jährigen speist sich nicht nur aus der grundsätzlichen Linie der USA gegenüber Israel, sondern auch aus Bidens eigener Biografie. Immer wieder hat Biden seit dem 7. Oktober darüber gesprochen, wie ihn die Erzählungen seines Vaters über den Holocaust geprägt haben. Biden war siebenmal als Senator, dreimal als Vizepräsident unter Barack Obama und nun zweimal als Präsident in Israel, hat jeden Premier seit Golda Meir getroffen. Bidens Nahost-Haltung ist nicht wankelmütig.
Doch seine komplizierte Beziehung zu Netanjahu – den er als Vizepräsident schon mal bei einem Dinner warten ließ und den er in seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf als “kontraproduktiv” und “rechtsextrem” bezeichnet hatte – und dessen Unwillen, mehr auf die US-Regierung zu hören, erzürnen Biden offensichtlich.
Laut einem NBC-Bericht hat Biden im Privaten über Netanjahu gesagt, der mache ihm “die Hölle heiß”, und es sei unmöglich, mit ihm zu verhandeln. Aus dem anstrengenden Freund ist demnach ein “Arschloch” geworden. Mehrfach soll Biden das über Netanjahu gesagt haben. Derartige Berichte häufen sich, auch CNN, Politico und andere berichten darüber – im politischen Washington ist es kein Zufall, dass das publik wird. Die öffentliche Sprachregelung des Weißen Hauses ist das eine, halbsubtile Botschaften das andere.
Eine aktuelle Umfrage AP-Umfrage hat ergeben, dass die Hälfte der Befragten mittlerweile der Ansicht ist, dass Israels Reaktion auf den Terroranschlag zu weit gehe. Und die noch entscheidendere Zahl für Biden: 53 Prozent der demokratischen Wähler sind nicht mehr einverstanden mit der Art und Weise, wie Biden mit dem Konflikt umgeht.
Das größte Druckmittel hat Biden bislang nicht eingesetzt
Bidens Bibi-Problem wird größer. Selbst wenn die angekündigte Waffenruhe zum Wochenende zustande kommen sollte, wird der US-Präsident weiter handeln müssen. Netanjahu hat angekündigt, dass diese Pause seine geplante Offensive in Rafah nur verschieben würde. Eine langfristige Lösung in der Region wird es mit Netanjahu nicht geben, das weiß Biden. Doch der Wahlkämpfer Biden braucht eine kurz- und mittelfristige Ruhe.
Das größte Druckmittel hat er bislang nicht eingesetzt: Waffenlieferungen. Laut dem Recherchedienst des US-Kongresses haben die USA von 1948 bis März 2023 Israel 158 Milliarden Dollar an Hilfe zukommen lassen (PDF). Der Großteil davon ist Militärhilfe. Seit dem 7. Oktober sind bereits weitere 14,3 Milliarden Dollar geflossen, über mehr Geld wird im Kongress verhandelt. Israel nicht mehr in dieser Form zu unterstützen, wäre eine derzeit kaum vorstellbare Kehrtwende für Biden und zudem eine, die ihm bei anderen Wählergruppen Probleme bereiten würde. Donald Trumps einzige Äußerung zu Israel ist verkürzend populistisch: Mit ihm wäre das alles nicht passiert.
Doch Joe Biden wird nicht viel länger auf Zeit spielen und sich von einem Deal zum nächsten hangeln können. Vielleicht sollte der Präsident zusätzlich zu seinen regelmäßigen Telefonaten ein neues Foto für Benjamin Netanjahu unterschreiben. “Bibi, ich bin mit nichts einverstanden, was du sagst, ich liebe dich nicht mehr – und das wird Konsequenzen haben.”
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