Die USA brauchen eine Präsidentin
Ein Sieg Kamala Harris würde skeptischen US-Bürgern beweisen, dass in erster Linie Kompetenz und Fachwissen die Tür zum Oval Office öffnen – und nicht Geschlecht oder Herkunft. Und er würde Mädchen weltweit Mut machen.
Hat Kamala Harris überhaupt eine Chance, den Demagogen Donald Trump zu besiegen? Bei dieser Schlüsselfrage im verrücktesten US-Wahlkampf seit Langem schwingt die eine Frage mit: Sind die USA bereit für eine Präsidentin, noch dazu eine schwarze?
Natürlich: Geschlecht und Herkunft sollte in diesem historischen Wettstreit um den wichtigsten Job der Welt eine marginale Rolle spielen. Harris ist hochqualifiziert, kompetent und hat einen beeindruckenden Lebenslauf. Als ehemalige Staatsanwältin ist sie bestens ausgerüstet, dem in zahlreiche Justizskandale verwickelten Trump die Stirn zu bieten.
Die 59-Jährige ist zudem eloquent, kämpferisch und charismatisch. Und vor allem ist sie eine langjährige, profunde Kennerin der komplexen Welt der Washingtoner Machtzentralen. Manchen ist sie zu liberal, anderen zu wenig radikal. Aber sie schafft es, ihre Ansichten überzeugend zu vertreten.
Wie das Mädchen Helmut Kohls
Und doch wird Harris besonders verbissen darum kämpfen müssen, damit man ihre Kompetenzen überhaupt wahrnimmt. Genauso wie sich einst Angela Merkel vom Image des „Mädchens von Helmut Kohl“ freistrampeln musste. Denn derzeit ist Harris in erster Linie „die schwarze Frau“, die einstige Hoffnungsträgerin, die als Stellvertreterin des US-Präsidenten unsichtbar wurde und der Biden besonders lästige Dossiers aufbrummte, weil man das als Chef so macht.
Auf ihre Rolle als farbige, fleißige Frau „mit Migrationshintergrund“ (ihre Eltern, aus Indien und Jamaika, waren beide erfolgreiche Akademiker) reduzieren sie aber nicht nur Gegner. Trump und seine Klone attackieren Harris mit dumpfem Sexismus. „Ich nenne sie kichernde Kamala. Die ist durchgeknallt“, sagt Trump. Das ist traurig, aber nicht wirklich erstaunlich. Selbst Mitkämpfer sehen in Harris einen Magneten für farbige Wählerinnen: Win With Black Women lautet eine erfolgreiche Fundraising-Gruppe für Harris.
Bossy Woman
Wobei Harris in Umfragen bei Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen nicht viel besser als Joe Biden abschneidet. Schwarze Frauen finden Harris „arrogant“ (Männer auch). Das Label „bossy woman“, herrschsüchtige Frau, wurde schon Hillary Clinton zum politischen Verhängnis. Anders als Clinton ist Harris auch noch kinderlos. Und das wirke abschreckend auf die heiß begehrten „Soccer Moms“, heißt es.
Wenn Harris als erste Frau ins Weiße Haus einziehen will, muss es ihr in diesem kurzen Wahlkampf noch gelingen, sich von diesen Rollen und Stereotypen zu befreien und stattdessen ihre fachliche Kompetenzen in den Vordergrund zu rücken. Es wird eine harte Schlacht, die einen hohen Tribut erfordert und persönlich zermürbend, schmerzvoll und belastend sein wird. Eine Schlacht, die schon hartgesottene Profis wie Hillary Clinton oder Neuseelands Ex-Premierministerin Jacinda Ardern in die Knie gezwungen hat.
Ein Kampf, der sich lohnt
Es ist ein Kampf, der sich lohnt. Denn US-Bürger müssen erst überzeugt werden, dass ihr Land sehr wohl bereit für seine erste Präsidentin ist: In Umfragen ist eine Mehrheit dafür offen. Doch dieselben Befragten bezweifeln, dass die USA wirklich so weit sind.
Ein Sieg Kamala Harris würde das Gegenteil beweisen. Sie würde jungen Menschen, Männern und Frauen, zeigen, dass Leistung und Kompetenz auch die Tür zum Oval Office öffnen, ganz egal, ob für Frau, Mann, Schwarz oder Weiß. Und sie würde jenen jungen Mädchen Mut machen, die selbst hier in Europa neugierig diese Amerikanerin beobachten. Und sagen: „Sie wird niemals gewählt werden. Denn sie ist eine Frau.“
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