Seit Kamala Harris zur Nachfolgerin von Joe Biden auserkoren wurde, meidet sie die klassischen Medien. Stattdessen lässt sie systematisch von Influencern Werbung für sich verbreiten. Kritische Nachfragen über ihre Inhalte kommen dabei nicht vor. Eine Strategie, die ihr am Ende schaden könnte.
Mit einem dünnen Pinsel tupft sich die Influencerin Nadya Okamoto ihr Make-up auf die Wangen und guckt dabei in die Selfiekamera ihres Handys. „Get ready with me for the DNC“ – Mach dich mit mir fertig für den Parteitag der Demokraten, sagt sie und präsentiert ihren 4,1 Millionen TikTok-Followern ihr Outfit.
Es ist das erste von insgesamt zwölf Videos, die Okamoto zum Parteitag der Demokraten veröffentlichen wird. Insgesamt werden sie mehrere Hunderttausend Mal angeschaut. „Einen Schritt näher an der Wahl unserer ersten weiblichen Präsidentin“, steht etwa in der Beschreibung eines Videos in dem sie in der United Center Arena in Chicago zu einem Song von Charlie XCXs Album „brat“ tanzt, der Harris einen riesigen Social-Media-Hype beschert hat.
In normalen Zeiten ist Okamoto überwiegend unpolitisch. In Videos verlost sie Tickets zu Taylor-Swift-Konzerten und präsentiert Tricks, wie man im Flugzeug besser schlafen kann.
Zum ersten Mal haben die Demokraten eine ganze Armee Influencer zu ihrem Parteitag eingeladen. 200 Plätze, die sonst für Journalisten bereitstanden, waren für sie reserviert. Ein Coup der Parteistrategen, denn die „Content Creator“, wie sie in den USA genannt werden, haben jede Menge Inhalt produziert. Unter den einschlägigen Hashtags finden sich tausende Beiträge, die ihre Follower zu sehen bekommen.
Harris hat damit einen Weg gefunden, diejenigen mit Gute-Laune-Videos von ihrem Parteitag zu erreichen, die keine traditionellen Medien konsumieren. Dabei handelt es sich um die meist umkämpfte Wählergruppe in diesem Wahlkampf: junge Menschen.
„Wir geben Influencern einen Sitz in der ersten Reihe, um Geschichte zu erleben“, sagte der Sprecher der Demokraten, Matt Hill, der Nachrichtenagentur Reuters. Tatsächlich dürften die Parteistrategen eiskalt kalkuliert haben. Seit Joe Biden Kamala Harris das Feld für die Präsidentschaftskandidatur überlassen hat, wollen die Demokraten eine Wohlfühlatmosphäre schaffen, in der alle hoffnungsvoll auf die Zukunft des Landes blicken.
Damit das gelingt, sind Influencer das perfekte Werkzeug. Sie sind nämlich keine Journalisten. Auf ihren Accounts präsentieren sie sich selbst als Marke und nehmen ihre Community mit durch ihr Leben. Politische Themen spielen eher weniger eine Rolle. Von Influencern wollen die Zuschauer nahbare Tipps und Inspiration für ihren eigenen Alltag. Was spricht schon dagegen, hier ein bisschen „Wahlinspiration“ dazwischen zu streuen?
„Ich halte mich nicht für einen Journalisten, aber meine Zuschauer tun das definitiv“, sagte der 25-jährige Influencer Carlos Espina zur WELT-Partnerpublikation „Business Insider“. Genau das machte sich die Harris-Kampagne zunutze. Zwei Parteiinsider bestätigten dem Portal, dass ihr Team dabei hilft, Interviews zwischen Influencern und demokratischen Politikern zu arrangieren.
Exklusives Harris-Interview mit seichten Fragen
So erhielt die Influencerin Vidya Gopalan die Möglichkeit, Harris persönlich zu interviewen. Eine Gelegenheit, um die sich die profiliertesten und kritischsten Journalisten aller amerikanischer Fernsehsender und Zeitungen derzeit vergeblich bemühen. Seit ihrer Ernennung zur Kandidatin hat Harris keinem großen Medium ein ausführliches Interview gegeben und abseits kleinerer Fragerunden am Rande von Auftritten keine längere Pressekonferenz abgehalten.
Zu besprechen gäbe es viel. Abgesehen von guter Stimmung und Optimismus wissen die amerikanischen Wähler noch nicht, wofür Harris genau steht. Laut einer Umfrage des Senders CBS sind die Probleme der Wirtschaft, die Inflation und die Migration die wichtigsten Themen für die Wähler.
Wirklich konkrete Pläne hat Harris noch auf keinem Gebiet präsentiert. Man könnte also meinen, Influencerin Gopalan nutzt die seltene Chance und versucht Harris Konkretes zu entlocken. Doch das Gegenteil passiert. Zum Einstieg bemerkt sie, dass auch Harris‘ Mutter den indischen Nachnamen Gopalan habe und fragt sie, inwiefern ihre Herkunft sie im Leben geprägt hat.
Auch in Frage zwei und drei muss Harris nicht etwa die Frage der Finanzierung ihres vage angekündigten Steuerentlastungsprogramms parieren, sondern darf beantworten, was ihr Lieblingsessen in Chicago sei und worauf sie sich beim Parteitag am meisten freue. Die beiden lächeln sich an, schütteln sich beide Hände. „We’re here for you“ – Wir stehen hinter dir, sagt Gopalan zum Abschied. Das kurze Gespräch wurde insgesamt fast drei Millionen Mal angesehen.
Für Harris war das Interview mit Gopalan die perfekte Gelegenheit, eine alternative Medien-Realität zu schaffen. Volksnähe und Normalität ist das, was die Kampagne der Vize-Präsidentin vermitteln will. Haben Wähler das Gefühl, ein Politiker ist „einer von ihnen“, steht außer Frage, dass er sich für sie einsetzen wird.
Wirbt ein Politiker aber mit konkreten Inhalten, ist klar, dass die einer gewissen Wählergruppe zugutekommen werden – und anderen nicht. Letztere könnten sich dann abwenden. Durchschaut haben das die traditionellen Medien, die natürlich auch mit Neid auf das Influencer-Spektakel blicken.
So knöpfte sich auch das „Wall Street Journal“ Harris vergangene Woche vor. „Sie hat es weitgehend vermieden, konkrete Vorschläge zu machen, die mit einem Preisschild versehen sind und sie Kritik aussetzen würden“, kritisierte die Zeitung. Das sei zweifellos Absicht, denn Harris führe „einen Wahlkampf, bei dem es um Stimmungen geht.“
Bislang zahlt sich diese Strategie für Harris aus. Besonders unter jungen Menschen konnte Harris in Umfragen zulegen. Laut einer Analyse von „Politico“ konnte sie ihren Vorsprung auf Donald Trump im Vergleich zu den Werten von Joe Biden um ganze 17 Prozentpunkte erhöhen. Ein Pfeiler des Wahlerfolgs von Barack Obama und auch Biden 2020 war die überwältigende Zustimmung für beide unter jungen Wählern.
Riskante Strategie für Harris
Am Ende geht Harris jedoch mit diesem Ansatz ein gewaltiges Risiko ein. Anders als andere Präsidentschaftskandidaten hat Harris nicht den Prozess der Vorwahlen durchlaufen. Dieser ist nicht nur anstrengend, sondern ist auch eine Prüfung. Kandidaten müssen unter Beweis stellen, dass sie in jeder Situation passend auftreten können – ob beim Diner-Besuch in einer Kleinstadt in Iowa, beim Interview mit einer Regionalzeitung in New Hampshire oder bei der TV-Debatte mit zehn anderen unbekannten, dafür aber hoch nervösen Kandidaten, die alle gleichzeitig nach dem einen viralen Moment streben. Schon so mancher Hoffnungsträger wurde dabei entzaubert.
Harris ist die Kandidatur ohne all das praktisch in den Schoß gefallen, als Joe Biden aus Altersschwäche zum Aufgeben gezwungen war. Das könnte sich rächen, denn am 4. September wartet Donald Trump in der ersten von drei TV-Debatten auf sie. Jedes kritische Interview mit bohrenden Fragen von Amerikas Top-Journalisten, dem sie derzeit aus dem Weg geht, ist ein verpasstes Training.
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