Siegesplan für Kiew? Erstmal muss Harris gewinnen
Der ukrainische Präsident hofft auf Rückendeckung durch eine künftige US-Präsidentin Kamala Harris. Doch was, wenn am 5. November der unberechenbare Donald Trump gewinnt, der ihn heute in New York empfängt? Wolodymyr Selenskyj muss damit leben: Hilfen für Kiew werden zum Wahlkampfthema. Über das Schicksal der Ukraine entscheidet in fünf Wochen die Stimmung in den Vorstädten amerikanischer Swing States.
Wolodymyr Selenskyj kam am Donnerstag mit feierlicher Miene und hohen Erwartungen ins Weiße Haus. Mitgebracht hatte der ukrainische Präsident den von ihm ausgetüftelten Siegesplan.
Friedensplan? Siegesplan? Vielen Ukrainerinnen und Ukrainern würde fürs Erste schon ein Plan zum Überleben im kommenden Winter genügen. Doch um den Krieg abzukürzen und seinem leidgeprüften Land spätestens fürs Jahr 2025 neue Hoffnung zu geben – da hat Selenskyj völlig recht –, muss endlich auch die Frage nach der weiteren Strategie des Westens beantwortet werden. Allzu sehr waren in jüngster Zeit vor allem Washington, Berlin und Paris mit sich selbst und ihren hausgemachten Krisen beschäftigt.
Selenskyj will Russland zum Frieden zwingen – durch eine Politik der Stärke, die den Verantwortlichen in Moskau zur Einsicht verhilft, dass eine Fortsetzung des Krieges auch für Russland zu nichts Gutem führt, sondern Land und Leuten auf Dauer mehr schadet als nützt.
Wird der Westen zu einer solchen Linie finden? Einen Beitrag dazu kann das am Donnerstag von der US-Regierung für Oktober in Deutschland angekündigte Treffen von mehr als 50 Ukraine-Unterstützerstaaten leisten. Gastgeber wird US-Präsident Joe Biden sein.
Ein globaler Propaganda-Coup für Putin
Das Problem ist: Biden ist zu diesem Zeitpunkt ein scheidender Präsident auf seinen allerletzten Metern. Schon wenige Tage nach der Ukraine-Konferenz in Deutschland wird man wissen, ob die dort skizzierte Politik überhaupt Bestand hat. Sollte bei der Präsidentschaftswahl am 5. November Donald Trump gewinnen, ist alles Makulatur.
Der Wahlkämpfer Trump nutzt den ukrainischen Präsidenten inzwischen als Prügelknaben. Vor jubelnden Anhängern in North Carolina putzte er Selenskyj soeben runter als den Mann, „für den wir Milliarden zahlen, nur weil er keine Kompromisse machen will“.
Putin kann das Glas erheben auf einen globalen Propaganda-Coup: Von Trump hört man in amerikanischen Swing States inzwischen Töne wie von AfD und BSW in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Wozu Geld in die Ukraine geben? Haben wir nicht genug Probleme im eigenen Land? Wenn Putin seinen militärischen Druck auf die Ukraine aufrechterhält und parallel dazu diese politische Anti-Kiew-Welle weiter durch EU und USA rollt, kommt Russland ans Ziel.
Immerhin stimmte Trump zu, Selenskyj im Verlauf des heutigen Freitags noch kurz in New York zu treffen, in seinem Trump Tower. Damit kommt Trump einem Wunsch Selenskyjs entgegen, der dafür geworben hatte, unabhängig von allen jüngst deutlich gewordenen Meinungsverschiedenheiten seine Anwesenheit in den USA zu einem ersten persönlichen Treffen seit zwei Jahren zu nutzen.
Extrem weit weg von Kennedy: J.D. Vance
Wie man den Präsidenten eines von Russland überfallenen Landes dagegen komplett politisch und menschlich schneidet, hatte Trumps Vizepräsidentschaftskandidat J.D. Vance bei der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz vorgeführt. Vance, im gleichen Hotel physisch präsent, blieb einer Runde mit dem ukrainischen Präsidenten, US-Senatoren und dem Nato-Generalsekretär fern, weil er sich von Selenskyj „keinen neuen Gedanken“ versprach. In Nato-Kreisen war von „ekelhaftem Verhalten“ die Rede, ebenso wie im Juni dieses Jahres beim Auszug von AfD- und BSW-Abgeordneten aus dem Bundestag bei einer Rede Selenskyjs.
Wann je haben sich führende Politiker in den USA so weit entfernt vom Einsatz für die Demokratie? John F. Kennedy versprach im Jahr 1961, Amerika werde im Kampf um die Freiheit „jeden Preis zahlen, jede Last tragen, jeden Freund unterstützen und sich jedem Feind widersetzen“. Die Deutschen im Westen haben von dieser Grundhaltung jahrzehntelang profitiert. Aber gilt das noch?
Dem alten Biden wird man einen Kennedy-Moment nicht mehr abverlangen können. Auf Kamala Harris aber könnte eine Prüfung dieser Art zukommen. Nach ihrem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten am Donnerstag in Washington machte sie klar: „Ich werde weiterhin an der Seite der Ukraine stehen und mich dafür einsetzen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt und in Sicherheit und Wohlstand lebt.“
Beide Seiten allerdings wissen: Bevor Harris behilflich sein kann bei Selenskyjs Siegesplan, muss sie erst einmal selbst gewinnen am 5. November. Für den Mann aus Kiew mag es bitter sein, es ist aber wahr: Das Schicksal der Ukraine entscheidet sich in fünf Wochen – in den Vorstädten von Amerikas Swing States.
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