America Is No Longer a Role Model – But It Is Still the Best Friend the Germans Could Wish For

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Amerika ist kein Vorbild mehr – aber es bleibt der beste Freund, den sich die Deutschen wünschen können

Die Westbindung der Bundesrepublik ist eine Erfolgsgeschichte. Sie hat es verdient, verteidigt zu werden. Jetzt mehr denn je.

Wenn Joe Biden an diesem Donnerstag und Freitag zum letzten Mal als amerikanischer Präsident Deutschland besucht, wird er einen Kanzler treffen, auf den er sich immer schon verlassen konnte. Er freue sich auf Biden, sagte Olaf Scholz vorab. Die Zusammenarbeit mit den USA und die Einbindung Deutschlands in die Nato seien eine Konstante deutscher Politik, die heute infrage gestellt werde: «Das ist falsch», meinte Scholz warnend. «Das ist eine Bedrohung unserer Sicherheit.» So ist es.

Die deutsche Westbindung ist eine Erfolgsgeschichte. Sie hat den Deutschen ein Dreivierteljahrhundert Wohlstand und Sicherheit beschert. Und sie hat es verdient, verteidigt zu werden: gegen ihre Gegner im Inland und zur Not auch gegen den nächsten amerikanischen Präsidenten – sofern dieser Donald Trump heisst und seine «America First»-Politik der ersten Amtszeit fortsetzt. Das gilt aus Sicht der Handelsnation Deutschland vor allem für dessen zerstörerischen Glauben an Zölle.

Bindung heisst nicht blinde Loyalität

Dem Hinweis auf Trump liegt die Überzeugung zugrunde, dass Westbindung nicht gleichbedeutend sein darf mit blinder Loyalität. Ganz im Gegenteil: Die Vereinigten Staaten sind für andere westliche Staaten schon lange kein Vorbild mehr. Amerikas Gesellschaft ist tief gespalten, seine Kulturkämpfe wirken abschreckend, und sein Erscheinungsbild ist vielerorts verwahrlost.

San Francisco oder Los Angeles erinnern aufgrund der Fentanyl-Epidemie heute eher an die Zombie-Serie «The Walking Dead» als an Grossstädte im mächtigsten Land der Welt. Und nein, die Politik amerikanischer Präsidenten war in der jüngeren Vergangenheit selten ein Segen für den Rest der Welt. In Afghanistan oder in Syrien etwa richteten diese Debakel an, mit deren Folgen auch Deutschland bis heute in Form gewaltiger Flüchtlingsströme zu kämpfen hat.

Warum sollte man einer Supermacht die Stange halten, die im Innern so zerrüttet ist und international so viel Schaden anrichtet? Die Frage ist berechtigt. Und es wäre unklug, Kritik an den USA pauschal als «antiamerikanisch» abzukanzeln. Wer so agiert, und das tun viele selbsterklärte Transatlantiker, überzeugt niemanden, der nicht schon überzeugt wäre. Er vertieft nur die Gräben, die von den echten Antiamerikanern ausgehoben werden. Und diese sind in Deutschland so einflussreich wie nie. Sie kommen von links und von rechts, und sie stossen vor allem im Osten auf offene Ohren.

Linker und rechter Antiamerikanismus

Dazu gehört seit kurzem das Bündnis Sahra Wagenknecht, das die Nato bei jeder Gelegenheit als Kriegstreiber darstellt und amerikanische Interessen, wenn, dann nur als Antipoden zu deutschen Interessen thematisiert. Und dazu gehört schon etwas länger die AfD, auch wenn sich die Partei in ihrem Programm zur Nato bekennt und die USA als «Partner» bezeichnet. Führende Kader wie der frischgebackene thüringische Wahlsieger Björn Höcke reden und denken anders. Für sie sind die USA kein Land mit Makeln, sondern eine Weltmacht mit finsteren Absichten.

In seinem 2018 erschienenen Buch «Nie zweimal in denselben Fluss» behauptet Höcke beispielsweise, dass die Vereinigten Staaten eine Doppelstrategie verfolgten, die den islamischen Raum destabilisiere und «ganz bewusst» eine muslimische Massenmigration nach Europa fördere, die dort «innergesellschaftliche Konflikte und islamische Terrorbedrohung züchtet». Belege für sein Geraune liefert er nicht.

Solche Erzählungen haben in Deutschland Tradition. Linke Bildungsbürger, die heute in Rente sind, schwärmten als Studenten von marxistischen Revolutionären wie Che Guevara und Ho Chi Minh und schimpften auf den amerikanischen Way of Life im Allgemeinen und den Glauben an die schöpferische Kraft freier Märkte im Besonderen. Rechts stimmten viele ein, wenn auch aus anderen Gründen. Die USA galten und gelten ihnen als Zerstörer traditioneller Werte im Innern und als Imperium, das Deutschland klein und abhängig halten will.

Das Hufeisen der deutschen Amerika-Gegner ist nicht neu. Aber es verlangt angesichts seiner Wahlerfolge nach neuen Antworten. Zwei Gedanken können dabei helfen.

Erstens: Die Westbindung ist richtig nicht wegen, sondern trotz dem heutigen Erscheinungsbild und Auftreten der Vereinigten Staaten. Es geht um die Idee von Amerika. Die Grundwerte seiner Unabhängigkeitserklärung und Verfassung sind denen der anderen, autoritären Grossmächte dieser Welt nicht nur ein bisschen, sondern haushoch überlegen: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Marktwirtschaft und das Recht jedes Bürgers, nach Glück zu streben – einem selbst definierten, keinem oktroyierten Glück.

Lieber mit Russland? Oder China?

Zweitens: Amerika ist kritikwürdig, aber auch kritikfähig. All die genannten Mängel und Fehlentscheidungen werden im Land selbst diskutiert: offen, hart und ohne staatliche Aufsicht. In Russland wäre das lebensgefährlich, in China auch. Daran muss man all jene erinnern, die fragen, ob ein «blockfreies» Deutschland nicht besser wäre. In der Theorie klingt ihre Multipolarität gut. Aber die Realität der internationalen Politik ist eine andere. Gross- und Supermächte haben die Welt schon immer in Einflusszonen aufgeteilt. Deutschland und das sicherheitspolitisch zersplitterte Europa wären ohne amerikanische Patronage kein neutraler Raum. Sie wären eine Einladung an andere, in diesem Fall autoritäre Mächte, die Lücke zu füllen.

Und damit zurück zu Joe Biden und Olaf Scholz. So schwach wie mit diesen Köpfen sah das transatlantische Bündnis lange nicht aus. Der eine ist seinem Amt aus Altersgründen nicht mehr gewachsen, der andere ist von seiner Koalition überfordert. Doch die Tatsache, dass beide Männer an der Idee des Westens festhalten, ist ein Grund zur Freude, zumal für die Deutschen.

Der Westen ist angezählt. Aber er kann sich erholen. Besser als die Alternativen ist er allemal.

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