Auf Nukleardrohungen mit Defaitismus reagieren? Wider den Vulgär-Realismus in der Ukraine-Debatte
Ein Eingehen auf die Atomwaffen-Drohungen Moskaus würde das Risiko einer nuklearen Eskalation keineswegs verringern. Es handelt sich hier um antiquierte Einschätzungen der Konfliktforschung.
Totgeglaubte leben länger. Dieses Sprichwort gilt leider derzeit für den sogenannten Realismus, eine bis in die 1990er Jahre einflussreiche politikwissenschaftliche Theorie, welche die internationale Politik als reines Machtspiel zwischen militärischen Allianzen wahrnimmt und einer waffenstarrenden Polarität zwischen zwei grossen Machtblöcken die grösstmöglichen Friedenschancen für das internationale System zuspricht. Schon vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat der amerikanische Politologe John J. Mearsheimer diese Kernhypothese in die Behauptung umgemünzt, die Nato habe Russland mit ihrer Ostexpansion in die Enge getrieben, so dass letztlich dem Westen die Schuld an einem möglichen Waffengang zukomme.
Der 24. Februar 2022 hat zwar die Vorhersage Mearsheimers widerlegt, dass Putin den «Pufferstaat» Ukraine nicht überfallen werde, weil dies die Existenz Russlands gefährde. Diese Fehlprognose hat den amerikanischen Politologen und seine europäischen Adepten aber nicht zum Verstummen gebracht. Im Gegenteil, in Medienhäusern, Talkshows, Zeitungsspalten und den sozialen Netzwerken verbreiten sie nun die Nothypothese, dass ein an den Rand gedrängtes Russland notfalls auch Atomwaffen einsetzen werde, um die Kriegsziele doch noch durchsetzen zu können. Aus diesem Grund und ungeachtet des Völkermordes der russischen Truppen in der Ukraine seien deshalb Verhandlungen mit dem Kreml und Konzessionen angezeigt, um die Welt vor dem zu bewahren, was in den 1980er Jahren eine kollektive Angst war – der «nukleare Holocaust».
Natürlich besteht seit Hiroshima und Nagasaki das Risiko, dass sich die Menschheit durch einen atomaren Waffengang selbst auslöscht. Die Drohungen der Kreml-Kamarilla, allenfalls auch nukleare Waffen «zur Selbstverteidigung» einzusetzen, haben diese Gefahr ohne Zweifel erhöht. Aber gleichzeitig wissen wir seit der Entwicklung der Theorie der nuklearen Abschreckung in den 1960er Jahren auch, dass Nuklearwaffen militärisch nutzlos sind, weil ihr Einsatz auch für den Aggressor ein unkalkulierbares Risiko der Selbstzerstörung schüfe.
Der Vulgär-Realismus à la Mearsheimer ignoriert, dass Nuklearwaffen in einer Welt mit mehreren Atommächten nur ein brandgefährliches Verhandlungsmittel sind, mit dem sich Putin jene Konzessionen einzustreichen versucht, die mit konventionellen militärischen Mitteln nicht zu erreichen waren. Ein Eingehen auf die Drohungen Moskaus würde indes das Risiko einer nuklearen Eskalation keineswegs verringern, da Präsident Putin in einer nächsten Konfrontation in Ermangelung konventioneller militärischer Mittel noch einmal auf die nukleare Option setzen könnte – um noch obszönere Forderungen als jene an die Ukraine durchzusetzen, auf die eigene Souveränität zu verzichten.
Natürlich verläuft die Debatte zwischen führenden Vertretern der Konfliktforschung durchaus auch kontrovers. Es ist jedoch verheerend, dass im öffentlichen Diskurs die antiquierten Einschätzungen des traditionellen Realismus immer noch ein so grosses Echo finden. Wie bei den Diskussionen um das Coronavirus sollte sich auch bei den medialen Auseinandersetzungen zum russischen Angriffskrieg langsam die Einsicht durchsetzen, dass Experten eigentlich nur jene Forschenden sind, die zu einem bestimmten Thema international begutachtete Publikationen vorzuweisen haben – und nicht nur ein Twitter-Konto, eine telegene Erscheinung oder provokative Meinungen.
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