Verhandlungsdiplomatie ist gut, aber jetzt ist es allerhöchste Zeit, dass der Westen Putin die vollen Kosten eines Angriffs auf die Ukraine aufzeigt
Bundeskanzler Scholz reist nach Moskau, um in letzter Minute einen Krieg zu verhindern. Dass er mit Putin verhandelt, ist gut. Aber er muss klarmachen, welchen Preis Russland bei einem Einfall in die Ukraine zahlen müsste. Jede Zweideutigkeit wäre gefährlich.
Am vergangenen Wochenende haben die USA mit düsteren Warnungen Europa in Alarmstimmung versetzt. Ein Angriff Russlands auf die Ukraine sei nun jederzeit möglich, erklärte Washington. Zahlreiche westliche Regierungen haben daraufhin hastig die Repatriierung ihrer Bürger und Botschaftsangehörigen aus der Ukraine eingeleitet. Mitten in diese Aufregung hinein reist am Dienstag der deutsche Bundeskanzler Scholz zu Präsident Putin nach Moskau mit dem Ziel, einen Krieg gewissermassen in letzter Minute zu verhindern. Scholz sollte diese Gelegenheit mit allen Mitteln, die er zur Verfügung hat, nutzen.
Dabei sollte er durchaus auf Verhandlungsdiplomatie setzen. Das Ziel westlicher Politiker, Zeit zu gewinnen und Moskau am Verhandlungstisch statt an einer neuen Kriegsfront zu beschäftigen, ist richtig. Ein ähnlicher Versuch des französischen Präsidenten Macron letzte Woche hat allerdings wenig sichtbare Ergebnisse erbracht. Scholz sollte deshalb noch mehr tun. Er sollte die Gelegenheit nutzen, um Putin endlich die scharfen Konsequenzen mit aller Klarheit aufzuzeigen, welche Deutschland und die westlichen Alliierten Russland im Falle eines Angriffs auferlegen werden. Und er sollte klarmachen, dass dies für jegliche Form eines militärischen Angriffs gilt. Denn der Westen darf keine Zweideutigkeiten zulassen, die dem Kreml einen getarnten, schleichenden Kriegseintritt mit reduzierten Sanktionen erlauben könnten.
Das sind die Lehren aus der russischen Militäroperation im Donbass und der Annexion der Krim 2014. Damals verstand der Westen lange nicht, welches Spiel Russland mit der Infiltrierung «grüner Männchen» und anonymer Waffensysteme in die Ukraine spielte. Moskau stritt alles ab. Es mangelte anfangs an hieb- und stichfesten Beweisen. Deshalb blieb die Reaktion des Westens verspätet und überschaubar, man wollte Putin nicht provozieren. Acht Jahre später lässt der grösste unangekündigte Truppenaufmarsch an der Grenze eines Nachbarlandes seit dem Zweiten Weltkrieg erahnen, welche Schlüsse Putin daraus gezogen hat.
Bidens Versprecher entlarvt den Westen
Mitte Januar räsonierte Präsident Biden an einer Pressekonferenz im Weissen Haus über die Möglichkeit, dass es bloss «einen kleineren Angriff» Russlands in die Ukraine geben könnte und es im Westen dann «zu einem Streit darüber kommen könnte, wie man darauf reagieren sollte oder auch nicht». Bidens Aussage war wohl ein Versprecher, den er am Folgetag nach einer wütenden Reaktion des ukrainischen Präsidenten Selenski korrigierte. Aber sie enthüllte, dass das Weisse Haus einem solchen Szenario offenbar eine hohe Wahrscheinlichkeit zuschreibt, und sie wirkte geradezu wie eine Einladung an den Kreml, die Entschlossenheit der westlichen Alliierten mit einer begrenzten Aktion zu testen. Solche Fehler muss Scholz unbedingt vermeiden.
Es gibt noch immer Grund zur Hoffnung, dass Putin sein gewaltiges Waffenarsenal nicht dazu einsetzen wird, das Nachbarland durch einen Bomben- und Raketenhagel zu zerstören und Hunderttausende von ukrainischen «Brüdern und Schwestern» zu töten. Denn das hätte auch für Russland unabsehbare Risiken und hohe politische, militärische und wirtschaftliche Kosten zur Folge. Es würde die Ukrainer, die Putin doch so gerne in den Einflussbereich seines Reichs zurückholen will, vollends entfremden. Auch in der eigenen Bevölkerung stiesse eine solche Brutalität auf Unverständnis; sie widerspräche der Staatspropaganda des Kremls.
Putins Aggression ist durch nichts zu rechtfertigen
Als wahrscheinlicher muss ein Szenario gelten – auch wenn heute niemand die nächsten Schritte Putins vorhersagen kann –, das jenem gleicht, das Biden unvorsichtigerweise skizziert hat. Durch gezielte Luftangriffe auf Militäranlagen könnte Russland die Verteidigungsbereitschaft der Ukraine in wenigen Tagen dezimieren. Mit einem überschaubaren Truppeneinmarsch, allenfalls getarnt durch inszenierte Provokationen an der Grenze oder im Donbass, könnte ein Abschnitt im Osten oder im Süden des Landes besetzt werden. Das würde Russland wenig konkrete Vorteile bringen – die Ukraine ist schon jetzt keine militärische Bedrohung für die Atommacht Russland, und mit dem Donbass ist schon jetzt ein Teil des Landes im Kontrollbereich Moskaus.
Doch ein solches Szenario könnte von den russischen Propagandisten als Erfolg dargestellt werden: Die angebliche Bedrohung durch «ukrainische Faschisten» wäre abgewendet. In einem Grenzbereich der Ukraine könnte eine militärische Pufferzone eingerichtet und der russische Einflussbereich im Donbass und auf der Krim abgesichert werden. Dies würde einen triumphalen Teilrückzug der russischen Streitkräfte ermöglichen.
Zudem würde die Souveränität der Ukraine dauerhaft beschnitten, die Westorientierung und Demokratisierung des Landes erschwert und die wirtschaftliche Entwicklung behindert. Die Ukraine würde damit als Gegenmodell zu Putins autoritär beherrschtem und wirtschaftlich dahinsiechendem Reich viel weniger hell glänzen.
Jede Relativierung lädt zu noch mehr Gewalt ein
Deshalb muss der Westen jetzt klarmachen: Auch ein begrenzter Angriff ist durch nichts zu rechtfertigen. Dieser muss die maximal möglichen Gegenmassnahmen zur Folge haben, zu denen der Westen fähig ist. Jede Relativierung und jede Nachgiebigkeit würde einen autoritären Aggressor wie Putin nur zu noch mehr Provokationen und Zumutungen einladen und ihn zu einer noch grösseren Gefahr für die langfristigen Sicherheitsinteressen Westeuropas machen. Diese Botschaft muss ein wichtiger Teil von Scholz’ Mission in Moskau sein.
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