Die Veröffentlichung geheimer Dokumente ist unangenehm für die USA und gefährlich für die Ukraine. Nicht zuletzt, weil eine alte Debatte nun neues Futter bekommt.
Das Wikileaks-Trauma sitzt tief in Washington, D. C. Vor zwölf Jahren legten geheime Dokumente Details zum Vorgehen der USA im Irak-Krieg und in Afghanistan offen. Rund eine Viertelmillion weiterer Unterlagen gaben der ganzen Welt Einblicke in die Arbeit von US-Diplomaten – wie sie denken, wie sie kommunizieren, wie sie über Feinde sprechen und auch über Verbündete.
Aus Sicht von Außen- und Verteidigungsministerium war das ein absoluter Alptraum, der sich auf keinen Fall wiederholen sollte. Aber schon 2013 ging Edward Snowden mit den Geheimnissen der National Security Agency (NSA) an die Öffentlichkeit. Dass die USA im großen Stil nicht nur Internetnutzer ausspionierten, sondern auch internationale Partner, wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, sorgte für Turbulenzen in den internationalen Beziehungen.
Nun sind erneut Dokumente geleakt worden, mutmaßlich Briefings für hochrangige Beamte im Pentagon. Diesmal geht es vor allem um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Im Vergleich zu Wikileaks sind es nur eine kleine Handvoll Dokumente, rund 100 an der Zahl. Aber sie geben offenbar unter anderem Einblicke ins Innerste der ukrainischen Verteidigungsstrategie. Hochsensible Details wie Standorte von Truppen sind ebenso darunter wie mögliche Schwachstellen. Denn auch das geht aus den Unterlagen hervor: Ohne Nachschub von Munition könne die ukrainische Luftabwehr den russischen Angriffen nicht mehr lange standhalten.
Klein, aber gewaltig
Dass diese Informationen jetzt öffentlich werden, ist für die Ukraine gefährlich, weil Russland sie zum Anlass nehmen könnte, wieder stärker mit Kampfjets anzugreifen. Die Bestände aus alten sowjetischen Luftabwehrraketen, die einen großen Teil der Vorräte der Ukraine ausmachen, sollen laut einem der Dokumente spätestens Anfang Mai aufgebraucht sein – zumindest bei der Geschwindigkeit des Verbrauchs, wie sie Ende Februar berechnet wurde. Das berichtet die New York Times.
Trotz der Tatsache, dass sich diese Berechnung schon wieder überholt haben könnte, ist dies die bemerkenswerteste Eigenschaft der geleakten Dokumente: Sie sind nur ein paar Wochen alt. Und so bieten sie, wenn man so will, eine Art Liveschalte ins ukrainische Verteidigungsministerium. Zudem finden sich zu Russland ebenso Informationen wie zu Verbündeten wie Israel, der Türkei und Südkorea – das sich demnach mit dem Aufruf des Westens plagte, der Ukraine dringend benötigte Munition zu schicken. Ägypten wiederum, das von den USA pro Jahr über eine Milliarde Dollar an Militärhilfen erhält, soll heimlich geplant haben, Russland mit Raketen zu versorgen.
Dieses Leak mag kleiner sein als andere, aber nicht weniger gewaltig: Es ist offenbar von unmittelbarer Relevanz für die Frage, in welche Richtung sich der Krieg in der Ukraine jetzt drehen könnte.
Vor dieser allerdings steht noch eine andere Frage: Woher die Unterlagen stammen, wer sie abfotografiert und ins Netz gestellt hat, ist noch unklar. Ihre Echtheit wird derzeit vom Pentagon geprüft. In Südkorea will man schon das Ergebnis kennen: “Die beiden Länder sind sich einig, dass viele der veröffentlichten Informationen verfälscht sind”, sagte der stellvertretende nationale Sicherheitsberater Kim Tae-hyo.
Zumindest einige Dokumente scheinen nach Recherchen des Investigativnetzwerks Bellingcat – von wem auch immer – tatsächlich manipuliert worden zu sein: Die Opferzahlen auf ukrainischer Seite wurden höher und die auf russischer Seite niedriger angegeben als in der Realität. Auch die Verbreitungswege über prorussische Kanäle in die sozialen Medien sind Grund zur Vorsicht. Steckt am Ende gar Russland dahinter, wie die Ukraine es behauptet?
Das Leak ist unangenehm für die USA
Das ändert nichts daran, wie ernst die US-Behörden die Veröffentlichungen nehmen. Weder Pentagon noch Nationaler Sicherheitsrat wollen sich zu einzelnen Inhalten äußern. Sie teilen nur mit, die möglichen Auswirkungen des Leaks auf die nationale Sicherheit der USA wie auch auf Verbündete würde untersucht. Und auch, welche Kreise von Personen zukünftig Zugang zu solchen Informationen haben sollten, will man nun überarbeiten. Hunderte, womöglich sogar Tausende Menschen kommen als Urheberin oder Urheber des Leaks infrage und obwohl einige Dokumente wohl schon seit Längerem im Netz kursieren, erfuhr das Verteidigungsministerium erst in der vergangenen Woche davon.
Das ist unangenehm für die USA. Nicht nur wird erneut öffentlich, was niemals öffentlich werden sollte: wie die Geheimdienste arbeiten, etwa bei der Aufspürung russischer Truppen mithilfe von Satellitentechnologie, und wie weit ihre Arme reichen – zum Beispiel bis weit in fremde Regierungskreise hinein. Das birgt das ganz konkrete Risiko für Informanten oder Agentinnen, aufzufliegen. Es sorgt aber auch für Verstimmungen bei wichtigen Partnern: Man könne nicht auf die Risikoanalyse der US-Behörden warten, sondern sei längst dabei, seine eigene zu erstellen, zitiert CNN einen Beamten aus einem Land, das Teil des Five-Eyes-Geheimdienstabkommens mit den USA ist. Dazu gehören Australien, Kanada, Neuseeland und Großbritannien.
Dass die USA als wichtigster Verbündeter genau über die ukrainische Strategie informiert sind, überrascht wenig – umso mehr, dass solche Dokumente, zumal mit “Top Secret”-Vermerk, so einfach nach außen dringen konnten. Auch der Inhalt ist heikel. Über eine mögliche Gegenoffensive seitens der Ukraine heißt es laut Washington Post, sie hätte wohl nur “bescheidene Gebietsgewinne” zur Folge, weil es “Defizite” bei der Truppenaufstockung gebe und die russischen Verteidigungsanlagen zu stark seien.
Was trauen die USA der Ukraine zu?
Auch diese Einschätzung stammt aus dem frühen Februar und könnte sich seitdem geändert haben. Öffentlich signalisieren Joe Biden und seine Regierung stets Vertrauen in die Siegeschancen der Ukraine. Aber was trauen sie ihr wirklich zu? Die Frage kam in den vergangenen Monaten immer wieder auf, insbesondere in Bezug auf das Ziel der Rückeroberung der Krim – und stets hat die Regierung in Washington diese Frage abmoderiert. Aus dem jüngsten Leak aber scheint hervorzugehen, dass es aus US-amerikanischer Sicht recht konkrete Vorstellungen davon gibt, was die Ukraine erreichen kann. Und vor allem: was nicht.
Das dürfte nicht nur Russland “einigermaßen interessant” finden, wie nicht ohne Häme Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte. Je mehr Zeit verstreicht, je mehr finanzielle und militärische Unterstützung nach Kiew fließt, vor allem aber: je näher die nächste Kongress- und Präsidentschaftswahl in den USA rückt, desto lauter werden die Stimmen aus der Republikanischen Partei, die ein Ende der Unterstützung für die Ukraine zugunsten von “America First” fordern. Dass diese Unterstützung “so lange wie nötig” – so das Versprechen Bidens – weitergeht, obwohl die Aussichten auf einen Sieg oder auch nur auf signifikante Fortschritte von der US-Regierung derzeit als gering angesehen werden, das könnte angesichts dieser Dokumente nun heftiger als zuvor diskutiert werden.
Nicht nur in den USA. Auch in Europa kommt immer wieder die Forderung nach Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau auf. Dieses Leak macht die Position derer, die sich weiterhin für die umfassende Unterstützung der ukrainischen Verteidigung einsetzen, noch schwieriger. Zumal es womöglich noch größer wird: Weil nicht klar ist, wo die undichte Stelle sitzt, kann auch niemand sagen, ob noch mehr hindurchsickern wird. “Wir wissen es nicht. Wir wissen es wirklich nicht”, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, auf die Frage, ob noch mehr geheimes Material im Umlauf sei. Das klingt, als könnte in Washington bald noch eine ganz andere Debatte beginnen.
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