US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hätte gerne einen Übergang zu “eher chirurgischen” Einsätzen im Gazastreifen. Die Regierung in Tel Aviv ist aber wohl nur zu kleineren Änderungen an der Strategie bereit.
Seit 75 Tagen wütet der Krieg um Gaza, und bei der dringlichen Suche nach einem Ausweg wird jedes Wort auf die Waagschale gelegt. Von einem baldigen Übergang zu “eher chirurgischen” Einsätzen sprach US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nun bei seinem Besuch in Tel Aviv – doch dies ist wohl weniger eine Ankündigung als eine Fortschreibung des amerikanischen Wunsches nach einem israelischen Kampfeinsatz, der weniger zivile Opfer fordert. Israel dagegen beharrt auf seinem Kriegsziel: einer Zerstörung der Hamas. Ein kleines Zeichen der Hoffnung immerhin sendete jetzt auch Israels Verteidigungsminister Joav Gallant aus.
“Ich kann Ihnen sagen, dass wir bald in der Lage sein werden, zwischen verschiedenen Abschnitten im Gazastreifen zu unterscheiden”, erklärte er bei einem gemeinsamen Presseauftritt mit Austin. Sein Ausblick: Überall dort, wo die Hamas-Kämpfer besiegt seien, werde man “schrittweise zur nächsten Phase übergehen”. In dieser Phase könne auch damit begonnen werden, die Bevölkerung dorthin zurückzuholen.
Nach bisherigem Kriegsverlauf bedeutet dies wohl, dass die aus dem Norden geflüchteten Bewohner in das – inzwischen weitgehend zerstörte – Gebiet zurückkehren könnten. Dies würde der israelischen Armee das weitere Kämpfen im bislang völlig überfüllten Süden erleichtern.
Die USA hätten wohl gerne ein Ende der heißen Kampfphase innerhalb von Wochen
Auf einen Zeitplan will sich jedoch niemand festlegen. In Medienberichten ist mit Verweis auf amerikanische und israelische Quellen die Rede davon, dass die USA auf ein Ende der heißen Kampfphase innerhalb weniger Wochen dringen. Druck in diese Richtung wird jedoch höchstens hinter den Kulissen ausgeübt. Austin erklärte in Tel Aviv, dies sei “Israels Militäreinsatz” und er sei “nicht hier, um Zeitpläne oder Bedingungen vorzuschreiben”.
In Israel selbst stellt man sich auf einen langen Einsatz ein. Aufrufe zu einer Waffenruhe vonseiten der Vereinten Nationen oder von Verbündeten werden als unerwünschte Einmischung oder als Vorlage für die Hamas bewertet. Nur unter einer Bedingung ist die Regierung derzeit zu einer zeitweiligen Einstellung der Kampfhandlungen bereit: bei einer Freilassung von Geiseln.
Ein erstes, von Katar vermitteltes Abkommen Ende November hatte zu einer siebentägigen Feuerpause geführt, in der 80 entführte israelische Frauen und Kinder gegen 240 palästinensische Gefangene ausgetauscht worden waren. Freigekommen waren zudem 24 Geiseln aus Südostasien und ein junger Mann mit russischer Staatsbürgerschaft. Seither aber sind Geiseln nur noch im Sarg nach Israel zurückgekehrt, und der Druck auf die Regierung zu einem neuen Deal mit der Hamas ist deutlich gestiegen, nachdem am vorigen Freitag drei Geiseln aufgrund einer fatalen Fehleinschätzung von der eigenen Armee erschossen worden waren.
Die Hamas nutzt die israelischen Geiseln für ihren Psychokrieg
Die Zahl der noch in Gaza verbliebenen Geiseln wird mit 129 angegeben. 21 davon hat Israels Armee aber aufgrund von Geheimdienstinformationen schon für tot erklärt. Es wächst die Angst, dass die Opferzahl mit jedem Kampftag steigen könnte – und die Hamas weiß das für den Psychokrieg zu nutzen. Am Montagabend wurde ein neues Video mit drei männlichen Geiseln im Alter von 79 bis 84 Jahren veröffentlicht. Einer der Verschleppten wendet sich direkt an Israel Führung: “Ihr müsst uns hier herausholen, um jeden Preis.”
Wie hoch der Preis sein soll, darüber wird nun zumindest wieder verhandelt, auch wenn die Positionen noch sehr weit auseinanderliegen. Israel scheint Berichten zufolge bereit zu sein, bei einem neuen Abkommen auch palästinensische Häftlinge freizulassen, die “Blut an den Händen” haben. Die Hamas aber hat nicht nur erklärt, dass im Gegenzug für eine Freilassung aller Geiseln auch alle palästinensischen Gefangenen freikommen müssten. Sie will die Geiselfrage auch mit einem Waffenstillstand verknüpfen, der den Krieg beendet und damit ihr eigenes Überleben sichert.
Für Israel ist das schlicht unakzeptabel. Die Waffen sollen erklärtermaßen erst dann schweigen, wenn die Hamas keinerlei militärische und zivile Kontrolle mehr über den Gazastreifen hat. Der viel beschworene Tag danach, also die Zeit nach dem Krieg, scheint damit noch in weiter Ferne zu liegen – und vor allem fehlt es dafür an abgestimmten Konzepten.
Israels Regierung hat sich bislang allen Vorschlägen für die Zukunft des Gazastreifens verschlossen. Premierminister Benjamin Netanjahu besteht auf einer künftigen israelischen Sicherheitskontrolle, doch darüber hinaus hat er allein gesagt, was er alles nicht will – nämlich eine Beteiligung der Palästinensischen Autonomiebehörde und einen Verhandlungsprozess, der zu einer Zweistaatenlösung führen könnte.
Im israelischen TV-Sender Channel 12 wird nun aber auf ein im Außenministerium erarbeitetes Geheimpapier zur Zukunft Gazas verwiesen. Demnach sollen “die Palästinenser die Möglichkeit haben, sich selbst zu regieren, ohne jede Möglichkeit, Israel zu bedrohen”. In die Verwaltung sollen internationale Organisationen, aber auch lokale Kräfte eingebunden werden, die nichts mit der Hamas zu tun haben. Im bisherigen Stadium ist das wohl bislang nicht mehr als ein Gedankenspiel. Aber immerhin deutet es auf eine erste Bewegung der israelischen Regierung hin in der Frage: Was geschieht am Tag danach?
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