Wo bleibt die Freiheit des Denkens an Amerikas Unis?
Der Rücktritt der Harvard-Präsidentin Claudine Gay ist Teil der Krise im Geistesleben der USA. Es ist an der Zeit, dessen Politisierung zurückzudrängen
Der Rücktritt von Claudine Gay als Präsidentin der berühmtesten Universität der Welt wird von konservativen Stimmen als Sieg im großen Kulturkampf gegen Wokeness und DEI (Diversity, Equity and Inclusion) gefeiert – und im progressiven Lager als genau das beklagt. Gay selbst hat in ihrem Kommentar in der New York Times ihren Fall als “ein Scharmützel in einem breiteren Krieg, um öffentliches Vertrauen in die Säulen der amerikanischen Gesellschaft zu untergraben”, bezeichnet.
Tatsächlich wurde die erste schwarze Frau an der Spitze von Harvard von rechten Proponenten mit einer klaren Agenda zu Fall gebracht: zuerst die Trump-treue Kongressabgeordnete Elise Stepanik, die Gay und ihre Kolleginnen von zwei anderen Eliteunis mit ihrer Gleichsetzung von propalästinensischen Protesten und Rufen nach Genozid an Juden in eine argumentative Falle lockte; und nun der Aktivist Christopher Rufo, der ihr Plagiate aus der Vergangenheit vorwarf, wo sie damals wahrscheinlich nur schlampig gearbeitet hat.
Leichtes Opfer
Gay ist ein politisches Opfer, aber sie war ein leichtes Opfer. Denn ihr Aufstieg an die Spitze von Harvard war das Ergebnis einer linken Ideologie, die Identität und Sühne für Unterdrückung über Fähigkeiten und Leistung stellt. Weder ihre akademische Arbeit noch ihre Managementerfahrung haben sie für dieses hohe Amt qualifiziert, das sie nach nur wenigen Monaten wieder räumen muss.
Gays ungeschickter Umgang mit dem Aufflackern des Antisemitismus nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober war kein Zufall: Ihre Forschung und ihre Karriere waren Teil einer Weltsicht, die die Gesellschaft strikt in Unterdrücker und Unterdrückte teilt und den Staat Israel – und indirekt damit auch Jüdinnen und Juden – ohne Differenzierung in erstere Schublade steckt.
Anti-Woke-Feldzug
Aber bevor Amerikas Konservative sich nun als Vorkämpfer für die Rückkehr zu intellektueller Redlichkeit aufspielen, sollten sie vor ihrer eigenen Tür kehren. Die größte Bedrohung des US-Geisteslebens geht derzeit von den reaktionären Bücherverbrennern wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis aus, die alle Spuren von Diversität, Toleranz und historischer Ehrlichkeit, etwa zum Vermächtnis der Sklaverei, aus den Schulbibliotheken verbannen wollen und genau jene Cancel-Culture betreiben, die sie ihren linken Gegnern vorwerfen. Ihr Sieg in der Schlacht von Harvard droht diesem Anti-Woke-Feldzug nun neuen Schwung zu geben.
In den vergangenen Jahrzehnten ist das intellektuelle Leben der USA zunehmend politisiert worden – an Universitäten von links, in Politik, Institutionen und sozialen Medien oft von rechts. Die antirassistische Black-Lives-Matter-Bewegung hat dies seit 2013 noch verstärkt, die Kontroverse um den Gaza-Krieg neue Schübe in beide Richtungen ausgelöst.
Gays Rücktritt wäre ein Anlass, das Rad ein wenig zurückzudrehen und in Schulen, Universitäten, traditionellen und sozialen Medien wieder einen offenen Diskurs zuzulassen, der mit Argumenten und nicht mit den Mitteln der moralischen Verurteilung ausgetragen wird. Gerade in einer Zeit, in der die Demokratie unter Druck gerät, wird die freie Meinung zum Rettungsanker für die Zivilgesellschaft. Die USA sind in solchen Themen meist geistiger Vorreiter für Europa. Die Zukunft von Harvard und anderen US-Hochburgen akademischer Exzellenz betrifft uns auch.
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