The Dream That Finally Came True

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Im Rausch der Obama-Revolution: Wie ein Naturereignis scheint das Phänomen Barack Obama über Amerika hereingebrochen – dabei hat sein Triumph eine lange, tragische Vorgeschichte. SPIEGEL ONLINE zeigt 20 Momente, ohne die Obama nicht Präsident geworden wäre.

Ob sich der oberste Richter der USA beim Vorsprechen des Amtseides für Barack Obama verhaspelte, weil die Situation so ungewohnt war? 233 Jahre nach Gründung der ältesten Demokratie der Welt schwor zum ersten Mal kein Weißer, die Verfassung der vereinigten Staaten zu wahren und zu schützen, sondern ein Afroamerikaner.

Obama meisterte den Lapsus mit Lässigkeit und einem Lächeln. Auf der Mall, dem Grünstreifen vor dem Kapitol in Washington, kämpften derweil Hunderttausende Amerikaner mit den Tränen, überwältigt von der Macht der historischen Moments: Für alle sichtbar trat Amerika in ein neues Zeitalter eintrat. Und natürlich waren es vor allem die farbigen US-Bürger, die die historische Tragweite dieses Triumphs besonders tief empfanden.

Denn so sehr der Einzug Barack Obamas in das Oval Office für einen Neuanfang steht: Dass ein Vertreter der afroamerikanischen Minderheit von der Mehrheit der US-Bürgern in das höchste Staatsamt gewählt worden ist, markiert auch den Abschluss und Höhepunkt eines historischen Kampfes für Freiheit und Bürgerrechte. Ein Kampf, der mehr als anderthalb Jahrhunderte dauerte, der die Nation in einen blutigen Bürgerkrieg führte und für den Abertausende schwere Opfer brachten, einschließlich ihres eigenen Lebens – berühmte Männer wie Martin Luther King und Malcolm X, aber auch weithin unbekannte Blutzeugen wie Medgar Evers, der 1963 in Mississippi von einem Ku-Klux-Klan-Mitglied erschossen wurde.

Roll-back nach der Sklavenbefreiung

Zum ersten großen Märtyrer für die Rechte der Farbigen wurde ein Weißer: Abraham Lincoln, der 16. Präsident der Vereinigten Staaten. Der Republikaner Lincoln war es, der nach der Sezession der Südstaaten und dem Ausbruch des Bürgerkrieges 1861 am 22. September 1862 die Abschaffung der Sklaverei verkündete und die Sklavenbefreiung zum offiziellen Kriegsziel der Union ausrief. Den Bürgerkrieg gewann Lincoln – doch seine Haltung bezahlte er wenige Tage nach Kriegsende mit dem Leben: Am Karfreitag 1865 schoss ihm der radikale Südstaatler John Wilkes Booth im Ford Theater in Washington aus nächster Nähe in den Kopf. Hunderte Schwarze hielten trotz strömenden Regens stundenlang eine Trauerwache vor dem Weißen Haus.

Die Verfassung, auf die Lincolns Nachfolger ihren Amtseid ablegten, garantierte den farbigen Amerikanern zwar Bürgerrechte einschließlich des Wahlrechts. und tatsächlich zogen die ersten schwarzen Kongressabgeordneten schon 1870 in das US-Parlament ein: Senator Hiram Rhodes Revels, der vom Kongress des Bundesstaates Mississippi nach Washington entsandt wurde, und Joseph Hayne Rainey, der als Mitglied des Repräsentantenhauses für South Carolina damals sogar direkt vom Volk gewählt wurde.

Doch nur wenige Jahre später drehten die Weißen in den Südstaaten die Uhren wieder zurück: Das Wahlrecht der Schwarzen wurde ausgehöhlt und die Rassentrennung (“Segregation”) verschärft, was vom Obersten Gerichtshof sogar mehrfach sanktioniert wurde – “equal but separate” hieß die Doktrin: Gleich, aber getrennt. Lynchmorde des Ku-Klux-Klans an Schwarzen waren um die Jahrhundertwende an der Tagesordnung. Die “Jim Crow”-Gesetze, die das Fundament für die Rassentrennung waren, blieben im Wesentlichen bis Mitte der sechziger Jahre erhalten – erst 1966 zog wieder ein Schwarzer in den US-Senat ein, Edward Brooke aus Massachusetts.

“Ich habe einen Traum”

Erst genau hundert Jahre nach dem Bürgerkrieg, der die Sklaverei beendet hatte, die Diskriminierung aber nicht, versuchten die farbigen US-Bürger, sich ihre Rechte zurückzuerkämpfen – diesmal gewaltlos. Die sechziger Jahre wurden zur Hochzeit des amerikanischen “civil rights movement”. Seine Waffen waren ziviler Ungehorsam, Tabubruch, Provokation. Seine Ikone wurde die Näherin Rosa Parks aus Montgomery, Albama, die 1am 1. Dezember 1955 im Bus stur auf einem Platz sitzen blieb, der für Weiße reserviert war. Parks landete für ihren Ungehorsam hinter Gittern – doch ihr Starrsinn zahlte sich letztlich aus: Nach Massenproteste und einen Busboykott hob der Oberste Gerichtshof der USA die diskriminierende Gesetzgebung auf.

Und das Beispiel machte Schule: Überall im Land gingen Farbige nun demonstrativ an für sie verbotene Orte und bestanden etwa im Restaurant auf Bedienung, ohne das Schild “Whites only” zu beachten. Der Protest zog sich durch die farbige Minderheit und vereinte einfache Arbeiter und große Intellektuelle. Zum unangefochtenen Führer der Bewegung wurde der Baptistenprediger Martin Luther King, ein begnadeter Redner.

Mehrmals wurde er angegriffen, er überlebte ein Bombenattentat und landete Dutzende Male im Gefängnis – und dennoch pries er stets Gewaltlosigkeit. Sein Auftritt beim “Marsch nach Washington” am 28. August 1963 wurde zur Legende: An diesem Tag hörten 250.000 Weiße und Schwarze seine berühmt gewordene Rede: “Ich habe einen Traum”, verkündete King, dass “eines Tages die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter am Tisch der Brüderlichkeit” sitzen würden.

Als Jesse Jackson weinte

Kurz sah es so aus, als würde sein Traum Wirklichkeit. King erhielt den Friedensnobelpreis, und der “Civil Rights Act” verbot 1964 in den USA die Diskriminierung aufgrund Rasse, Hautfarbe und Religion. Doch 1968 wurde King ermordet, es kam zu blutigen Auseinandersetzungen im ganzen Land und mit der “Black-Panther”-Bewegung radikalisierte sich der so lange gewaltfreie Protest der Farbigen.

Barack Obamas Wahl scheint die Amerikaner mit sich selbst zu versöhnen, und die schwarzen Bürger mit dem hohen Preis, den sie dafür über Generationen entrichtet haben. Als das Wahlergebnis in der Nacht des 4. November 2008 verkündet wurde und Obama sich in seiner Heimatstadt Chicago zum Sieger erklären konnte, zoomten die TV-Kameras auf einen alten Mann im Publikum, der eine amerikanische Fahne hielt und über dessen Gesicht Tränen strömten. Es war Jesse Jackson, ein Weggefährte Martin Luther Kings und Stimme des schwarzen Amerika in den achtziger Jahren.

Zweimal, 1984 und 1988, hatte Jackson sich als Präsidentschaftskandidat der Demokraten beworben, beide Male vergeblich. Jetzt, zwanzig Jahre später, erfüllte Barack Obama den Traum Jacksons – und den des ganzen schwarzen Amerika.

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