From Munich to Kabul

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Von München nach Kabul

Von Harald Martenstein

20.9.2009 0:00 Uhr

Raus aus Afghanistan? Ich war da unentschieden. Wenn die Nato aus Afghanistan abzieht, werden wieder Leute gesteinigt, Menschenrechte sind einen Dreck wert. Und man kann, anders als oft behauptet wird, eine Kultur und ein Wertesystem durchaus mit militärischen Mitteln exportieren, dies haben das Römische Reich, Napoleon, Spanien, England und die USA hundertfach vorgeführt. Andererseits, es gibt viele Länder, in denen es ähnlich zugeht wie in A., warum gerade dort? Das hängt auch mit geopolitischen Interessen zusammen, der ganze Humanismus ist zum Teil Heuchelei. Aber hatte nicht auch das Römische Reich Interessen? Ich war unentschieden.

Dann, am 8. September, veröffentlichten 25 deutsche Intellektuelle, darunter Martin Walser und Richard David Precht, einen Aufruf, in dem sie den Rückzug der Bundeswehr fordern. Precht sagte in Interviews, Deutschland dürfe nicht zur Zielscheibe von Terroristen werden. Walser schrieb schon im Juli: „Wir sind, wenn wir uns nirgends militärisch engagieren, kein Ziel mehr für den Terrorismus.“ Eine Woche später wurde in München ein Mann totgeschlagen, weil er versuchte, Kindern zu helfen. Andere schauten zu. Ihm kam niemand zu Hilfe. Ein Held. Deutschland lief über vor Artikeln und Talkshows, in denen Zivilcourage gepriesen, Mut und hohe Strafen gefordert und die Gleichgültigkeit gegeißelt wurde.

Bin ich der Einzige, der den Zusammenhang sieht zwischen München-Solln und Kabul? Wir sind, wenn wir uns in der S-Bahn nirgends mit Zivilcourage engagieren und schnell abhauen, kein Ziel mehr für jugendliche Totschläger. In Deutschland sollen wir, wie fast jeder sagt, „nicht wegschauen“. In Afghanistan dagegen ist, wenn Frauen gesteinigt werden, Wegschauen, wie ebenfalls viele sagen, eine vernünftige Haltung.

Es ist noch komplizierter. Um in Afghanistan wirklich etwas auszurichten, müsste man wohl damit aufhören, dieses Land aus der Luft, aus sicherer Entfernung, zu bombardieren und dabei Hunderte von Zivilisten zu töten. Man müsste dieses Land für viele Jahre vollständig besetzen, seine Strukturen umkrempeln, neue Eliten und eine neue Alltagskultur schaffen, ähnlich, wie Napoleon und die USA es mit Deutschland getan haben. Das ist eine Illusion, es würde zu viele Tote kosten, uns, nicht die Afghanen. Eine heutige Demokratie, die das Leben ihrer Bürger für den höchsten Wert hält, was ich keineswegs kritisiere, kann so etwas nicht tun. Wir müssen dort abziehen, früher oder später, weil uns die Logik unseres Systems dazu zwingt. Wir haben unsere eigenen Menschenrechte so sehr verinnerlicht, dass uns die Menschenrechte der anderen egal sind. Ich bin mir selbst der Nächste, in Kabul und in der Münchner U-Bahn.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 20.09.2009)

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