Einen Gang zurückschalten
Von Tobias Kaufmann, 09.12.10, 15:06h, aktualisiert 09.12.10, 15:33h
Unternehmen kündigen Wikileaks die Kooperation, daraus entsteht durch Gegenangriffe der Sympathisanten ein „Cyberwar“. Diese Selbstjustiz muss enden – vor Gerichten und in Parlamenten. Anstoß, der ksta.de-Kommentar
Eine Sympathisantin des Enthüllungsportals verleiht ihrer Meinung Ausdruck. (Bild: dapd) Eine Sympathisantin des Enthüllungsportals verleiht ihrer Meinung Ausdruck. (Bild: dapd)Das nennt man wohl eine Überreaktion. Wie beim Domino kündigt ein Unternehmen nach dem anderen die Zusammenarbeit mit dem Enthüllungsportal Wikileaks auf. Regierungsvertreter wie US-Verteidigungsminister Robert Gates äußern sich öffentlich „befriedigt“, weil ein einzelner Staatsbürger sich einem Strafverfahren stellt – und befeuern damit die Verschwörungstheorie, der Ausgang des Falls Assange sei gar nicht mehr offen. Teile der Netzgemeinde schlagen mit Hacker-Attacken zurück. Das große Wort vom „Cyberwar“ macht die Runde. Das Establishment gegen die Hacker – offen ist, welche Seite die finstere Macht ist und welche im Dienste der Freiheit kämpft.
Fotoline: Die brisantesten Zitate von Wikileaks [15 Bilder]
So weit sollte man es, auch rhetorisch, gar nicht erst kommen lassen. Nüchtern betrachtet ist das Internet weder ein rechtsfreier Raum noch eine weltweite Kommune 2.0, die allen gehört. Es ist eine Kommunikations- und Geschäftsplattform, deren technische Grundlage – etwa Server – oft privaten Firmen wie Amazon oder Paypal gehört. Gegen deren Geschäftsbedingungen hat Wikileaks verstoßen. Dass jene Firmen, die für jedes Vorgehen gegen Nazi-Websites erst öffentlichen Druck brauchen, nun ausgerechnet in diesem Fall derart heftig reagieren, darüber wird zurecht gestritten. Auch mit unfeinen Methoden. Aber ist der Streit Ausdruck einer Zeitenwende?
Ein Vertreter des „Chaos Computer Clubs“ sagte am Mittwochabend, die Attacken gegen Mastercard, PayPal und Co. zeigten die wachsende Macht der Bürger im digitalen Zeitalter. Dies ist Unsinn. Nicht die Macht der Bürger wächst, sondern die Macht einzelner Computerfreaks. Deren Überzeugungen können, müssen aber keineswegs mit den Interessen „der Bürger“ übereinstimmen. Die Grenze zwischen revolutionärer Avantgarde und Kriminellen war, ist und bleibt fließend. Aus Wut über die Anti-Wikileaks-Kampagne die Seite einer Firma, einer Regierung oder einer Staatsanwaltschaft zu hacken, ist Selbstjustiz. Und die ist aus gutem Grund in freiheitlichen Gesellschaften verboten.
ksta.tv
Langer Rechtsstreit um Assange-Auslieferung? (1:57)Ohnehin stellt sich die Frage, welche Gesellschaft diejenigen wollen, die „totale Transparenz“ verlangen. Über diesen Punkt wird auch unter Netzaktivisten heftig gestritten. Denn wer den Staat von unseren privaten Verbindungsdaten fern halten will, der kann nicht seinerseits alle Barrieren des Persönlichkeits- und Urheberrechts einreißen, das zu schützen Internetfirmen wie Amazon verpflichtet sind. Genau darauf aber läuft es hinaus, wenn interne Briefwechsel etwa des US-Außenministeriums im Internet landen. Nicht jede Vertraulichkeit ist ein demokratiefeindliches Ränkespiel. Assange wird das bei den Gesprächen mit seinem Anwalt feststellen.
Öffentlichkeit, seit jeher die schärfste Waffe der Unterdrückten, steht heute Milliarden Menschen zur Verfügung – von Birma bis zum Iran. Aber die USA sind nicht Birma und Schweden ist nicht der Iran. Nicht Wikileaks hat darüber zu befinden, wo Informationsfreiheit vernünftigerweise enden muss. Dies sollte in demokratischen Gemeinwesen gewählten Volksvertretern und einer freien Rechtsprechung definiert werden – öffentlich und für jeden beeinflussbar. Auch für die Revolutionäre des digitalen Zeitalters gilt im Zweifel der Einwand, wonach der Weg in die Hölle von guten Vorsätzen gepflastert ist.
Alle miteinander, Regierungen, Unternehmen und Netzaktivisten, sollten deshalb einen Gang zurückschalten. Auch rhetorisch. Die Grenzen von Wikileaks müssen vor Gerichten und in Parlamenten gezogen werden. Nirgends sonst.
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