We Are Wall Street

<--

Wir sind Wall Street

von Michael Stifter

16. Februar 2011

Große Ideen scheitern nicht selten an Kleinigkeiten. Da schmieden Deutsche und Amerikaner die größte Börse aller Zeiten und worüber diskutiert die Finanzbranche? Darüber, wie der neue Riese heißen soll. Eine Kleinigkeit? Ganz so einfach ist es nicht. Denn in der vermeintlich sachlichen Welt des Geldes geht es immer auch um Gefühle. Um Aufstieg und Untergang, um Reichtum und Bankrott. Kein anderer Ort steht so für diese Melange aus kühlem Kopf und heißem Herzen wie die Wall Street. Die New Yorker Börse ist die Wiege des Kapitalismus. Sie gilt als Symbol für die wirtschaftliche Stärke der Vereinigten Staaten. Und nun soll sie – ein bisschen – deutsch werden.

Viele Amerikaner fürchten, als Verlierer aus der Fusion zwischen Deutscher Börse und New York Stock Exchange Euronext hervorzugehen. Schließlich werden die Europäer die Mehrheit an dem künftigen Finanzgiganten halten. Oder ganz einfach gesagt: Wall Street – das sind jetzt auch wir.

Manhattan ist empört. Newt Gingrich sieht in dem Geschäft ein „eindeutiges Zeichen des Niedergangs“. Zwar ist es offensichtlich, dass der republikanische Politiker, der schon Bill Clinton das Leben schwer gemacht hatte, damit in erster Linie Präsident Barack Obama treffen will. Doch seine Äußerungen sind mehr als Propaganda. Sie treffen einen nationalen Nerv.

Dabei ist die transatlantische Börsenhochzeit – nüchtern betrachtet – für beide Partner ein sinnvoller Schritt. Die Liberalisierung des Wertpapierhandels hat den Konkurrenzkampf verschärft. Investoren nehmen wenig Rücksicht auf große Namen. Sie wollen möglichst schnell, möglichst sicher und möglichst billig agieren. Neue, privat organisierte Handelsplätze nehmen den Altvorderen Marktanteile ab. Die Gewinnmargen schrumpfen, die Entwicklung von Computersystemen ist teuer. Der Druck, Kosten zu senken, steigt. 300 Millionen Euro wollen sich New York und Frankfurt dank ihrer Ehe sparen. Weltweit planen Börsenbetreiber Ähnliches. Gerade erst haben London und Toronto ihre Fusionsabsichten verkündet.

Für die Deutsche Börse ist das Jawort aus New York ein Erfolg. Auch wenn schiere Größe allein keine Überlebensversicherung ist, so steht doch seit gestern fest: Die Frankfurter werden nicht geschluckt, sie überlassen das Feld nicht anderen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen stehen sie vor dem Sprung an die Weltspitze.

Die Musik spielt weiter am Finanzplatz Deutschland. Und auch die Amerikaner dürften sich bald mit ihrer Rolle als vermeintlicher Juniorpartner abfinden – wohl wissend, dass die erste Geige auch künftig der Wall Street vorbehalten sein wird. Bliebe noch die Sache mit dem Namen. Eine Kleinigkeit.

About this publication