Fear Devours America

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Zehn Jahre 9/11 Angst essen Amerika auf

von Stefan Kornelius

11.09.2011

Die Attentäter des 11. September wollten nicht nur möglichst viele Menschen umbringen, sondern auch das Leben der körperlich Unversehrten verändern. Das ist ihnen gelungen: Die Angst hat sich in die Gesellschaft hineingefressen, sie hat für Lähmung und Mutlosigkeit gesorgt. Die Angst ist das nachhaltigste Erbe der Terroristen, sie hat aus Amerika eine gepanzerte Nation gemacht.

Jetzt, wo all die Bilder wieder gezeigt werden, in Zeitlupe, aus allen denkbaren Winkeln, wo wieder die Körper aus den Fenstern fallen und die Türme stürzen; jetzt, wo all die Tondokumente erneut zu hören sind, die Stimmen aus den Cockpits, die Anrufe der Verzweifelten aus den Flugzeugen und die letzten Nachrichten auf den Anrufbeantwortern; jetzt, wo die Phantasie noch einmal den letzten Blick aus dem 92. Stock zulässt, ehe die Flugzeugschnauze sich durch die Scheibe bohrt – jetzt scheint es, als sei die Zeit noch immer gefroren.

Die Erinnerung weckt ein Trauma, wie es so viele Menschen kollektiv zuvor noch nie erlebt haben. Und dieses Trauma belegt, dass es die Angst ist, die nackte, brutale Angst, die den Charakter des Ereignisses 9/11 ausmacht.

Über den 11. September 2001 ist eigentlich alles geschrieben und gesagt worden. Die Biographien der Täter wurden rekonstruiert, ihre letzten Schritte nachvollzogen. Im Gegenschnitt kann man den Geheimdienst CIA betrachten und die amerikanische Bundespolizei, die mehr als eine Gelegenheit hatten, den Plot vor jenem düsteren Dienstag aufzudecken. Heute weiß man viel mehr als damals. Heute kennt man die Planer und ihre Telefonnummer im Jemen, man weiß, über welche Bankkonten Geld floss und wie eine Terroristen-Biographie entsteht.

Es ist ausführlich dokumentiert worden, wie die amerikanische Regierung reagierte, wie sie impulsiv einen Krieg in Afghanistan begann und anderthalb Jahre später einen zweiten im Irak willkürlich befahl. Der zweite Krieg wird gerade bilanziert, beim ersten ist die Rechnung noch offen, aber die wird auch keinen Anlass zur Freude geben. Der Krieg im Inneren, der mit den neuen Gesetzen und Behörden, den Scannern und Abhöranlagen, der lässt sich allemal nur langsam abwickeln.

Die Geostrategen haben die Dekade genutzt, um Amerikas Aufstieg und Fall als Hypermacht zu kartographieren, den Aufstieg Chinas dagegenzuhalten und beide Kurven in Relation zueinander zu setzen. Die Ökonomen haben aus der Asche von Ground Zero die letzten Bilanzblätter gezogen, die Politik des billigen Geldes, die Wohlfühlgeschenke nach dem Angriff und die Kriegskosten addiert und eine direkte Linie zur amerikanischen Immobilienblase, der Bankenkrise, der Schuldenkatastrophe und dem Absturz der Weltwirtschaft gezeichnet.

Und die Kulturwissenschaftler ziehen nach langen Debatten über das Verhältnis der Weltregionen zueinander Befriedigung aus der Selbstbefreiung der arabischen Welt von dem Joch der Autokraten, die in der Tat vielleicht nur deswegen gelingen konnte, weil die alte Ordnung von außen nicht mehr gestützt wurde und die radikal-islamistischen Alternativen in ihrem fanatischen Nihilismus sich selbst zerstört hatten.

Wiedergeburt der Ideologen

Der Tag brachte Extremisten aller Couleur hervor, das erst zehn Jahre zuvor beerdigte Jahrhundert der Ideologien erlebte eine surreale Wiedergeburt. Für uns oder gegen uns; Gott ist groß oder Gott ist tot. Die Welt war polarisiert. 9/11 bezieht seine düstere Macht nicht allein aus der nackten zerstörerischen Wirkung der Angriffe – 3000 Tote, zwei Symbole amerikanischer Stärke zerstört, die Kommandofestung der Militärmacht eingedrückt wie eine Cola-Dose.

Die Wucht ergibt sich auch aus dem bis heute unfassbar großen Gegensatz von Aufwand und Wirkung, von Fanatismus und Naivität, von apokalyptischer Phantasie und gewöhnlicher Vorstellungskraft. Um 8.46 Uhr morgens hatte niemand unter dem blauen New Yorker Himmel auch nur geahnt, dass todesbereite Männer mit Teppichmessern den Lauf der Welt verändern könnten. Keine noch so kühne Phantasie reichte aus, um den Hass zu ermessen, der einen Menschen am Knüppel einer Verkehrsmaschine in ein Gebäude fliegen lässt.

Schrille Scheingefechte

Diese Gedankenwelt war bis dato unbekannt, die Inszenierung war einmalig. Sie sollte nicht nur möglichst viele Menschen tödlich treffen, sie sollte auch die Psyche der Davongekommenen, der körperlich Unversehrten verändern. Wenn jetzt, mit den alten Bildern, die Beklemmung wieder erwacht, dann zeugt das von der – in der Logik der Täter – Vollkommenheit ihres terroristischen Akts.

Dessen historische Einordnung gehört heute zu den akademischen Herausforderungen. Hat 9/11 also die Welt verändert? Amerika dauerhaft deformiert? Den Islamisten einen Sieg beschert? Oder wird der Anschlag als geschichtsveränderndes Ereignis überschätzt? Diese Fragen zeugen einerseits davon, wie überwältigend das Bedürfnis nach einem Abschluss, nach einer Bilanz ist.

Andererseits ist diese Debatte Beweis für das grundsätzliche Problem, das Amerika und all jene erfasst hat, die am 11. September vor zehn Jahren in Schockstarre gefallen sind. Die Buchhalter der Geschichte ignorieren den eigentlichen Charakter von 9/11, sie leugnen die Dimension der Angst, die sich in die Gesellschaften hineingefressen hat. Tatsächlich verdrängen sie noch immer den Terror – statt seine Wirkung zu entlarven.

Amerika ist eine gepanzerte Nation geworden in den vergangenen zehn Jahren. Stoisch und aufgepumpt mit viel Geld folgt sie vordergründig der Aufforderung des 9/11-Präsidenten George W. Bush, das Land möge seiner Arbeit nachgehen, Normalität leben, sich nicht infizieren lassen von diesem Psycho-Virus Terror. Der Wunsch war verlogen, Bush selbst war es, der pfeifend durch den dunklen Wald lief. In diesem Geisteszustand entstand binnen zehn Jahren ein anderes Amerika. Die Nation wurde ausgelaugt und mutlos. Sie hat ihren Glanz verloren.

Amerika ergeht sich heute in ideologischen Scheingefechten, erlebt eine schrille, hasserfüllte Polarisierung. In der Politik ist die Mitte verdampft, selbst die Wahl eines Barack Obama – von außen betrachtet ein Akt der Selbstreinigung – hat den schrillen Ton nur vorübergehend gedämpft.

Das eigentliche Problem, der Terror und seine zermürbende Kraft, wurden ausgelagert an einen überbordenden Sicherheitsapparat. Die Suggestion von Sicherheit der alten Art wurde so aufrechterhalten. Der Tag im September sollte niemandem ein zusätzliches Opfer abverlangen: George Bush betrieb das Outsourcing von 9/11. Wenn Präsident Obama heute seiner Nation ein Opfer abverlangen will – eine Steuererhöhung zum Beispiel – dann zahlt er dafür bitter.

Am wenigsten hören aber wollen viele die Botschaft von der Angst, der eigentlichen Währung des Terrors. Sie ist geblieben in den zehn Jahren. Sie sorgt für Lähmung und Mutlosigkeit. Sie ist das nachhaltige Erbe der Terroristen vom 11. September 2001. Die radikalen Weltveränderer mögen am Ende nicht gewonnen haben, ihre Bewegung ist am Ende, der Nährboden fehlt, ihr strategisches Ziel, ein Kalifat, eine Massenbewegung, haben sie nicht erreicht.

Aber genauso wenig haben sich ihre Opfer von der Angst befreien können, die sie seit dem 11. September erfasst hat. Der lange Tag ist noch nicht zu Ende gegangen.

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