Only Those Who Have Money

<--

Soziale Ungleichheit ist ein überraschendes Thema für einen amerikanischen Wahlkampf. Im Gelobten Land des Kapitalismus, im Paradies des freien Unternehmertums, wo man ohne schlechtes Gewissen reich sein darf und es nie eine starke sozialistische Partei gegeben hat, ist Kritik an der Marktwirtschaft normalerweise keine Erfolg versprechende Strategie. Ist das 2012 anders?

Präsident Obama, der seine Kampagne gerade mit der »State of the Union«-Rede vor dem Kongress eröffnet hat, wird voraussichtlich einen Wahlkampf der Linken führen: für die hart arbeitende Mittelschicht, gegen die Exzesse der Wall Street und die Ungerechtigkeit eines entfesselten Marktes. Aber richtig frappierend ist es, dass der Klassenkampf auf der Rechten salonfähig wird und der aussichtsreichste Kandidat der Republikaner, Mitt Romney, sich für seine Vergangenheit als Fondsmanager und Firmenaufkäufer rechtfertigen muss – nicht vor der demokratischen Konkurrenz, sondern vor den eigenen Leuten.

ANZEIGE

Sein Rivale Newt Gingrich hat ihn bei den Vorwahlen in South Carolina nicht bloß als ideologisch unzuverlässigen Wendehals geschlagen, sondern auch als Repräsentanten einer abgehobenen Oberschicht; nur die republikanischen Wähler mit einem Jahreseinkommen von über 200.000 Dollar stimmten mehrheitlich für Romney. Gerade wurde er durch öffentlichen Druck gezwungen, seine finanziellen Verhältnisse offenzulegen: Wie kann es sein, dass ein Multimillionär nur 15 Prozent Steuern auf seine Einkünfte zahlt? Wie kann ein Mann Vortragshonorare von mehreren Hunderttausend Dollar als »nicht viel« bezeichnen? Alles traditionell unamerikanische Fragen. Aber auf einmal werden sie gestellt.

Ein Sozialstaat nach europäischem Vorbild werden die USA niemals

Das hat potenziell weitreichende Folgen für das politische Klima und die Machtverteilung in den USA. Kurz gesagt, beruht die Stärke der amerikanischen Rechten auf der Neutralisierung der Gerechtigkeitsfrage. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass Leute mit geringem Einkommen und prekärer sozialer Sicherung massenhaft die Republikaner wählen, die irgendwie doch die Partei des großen Geldes sind. Es geschieht, weil kulturelle Motive in den Vereinigten Staaten politisch oft stärker sind als ökonomische, weil also arme Kirchgänger lieber für reiche Kirchenfreunde stimmen als für kirchenfeindliche Umverteiler.

Die »Elite«, gegen die man rebelliert, sind weniger die Großverdiener und die Vermögenden als die intellektuellen Liberalen, die Latte-macchiato-Trinker und Europa-Liebhaber und die angeblich von ihnen beherrschte Bürokratie. Das jüngste Beispiel für diese Stoßrichtung des Volkszorns ist die Tea-Party-Bewegung, die als Lehre aus der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht etwa eine aktive Reformpolitik fordert, sondern noch mehr Markt und noch weniger Staat. Der Kapitalismus hat es in den USA auf eine erstaunliche Weise geschafft, populär zu bleiben.

Wenn jetzt die Ungleichheit als Wahlkampfthema auftaucht, wird diese marktgläubige Weltsicht infrage gestellt. Das ist, wer immer am Ende als republikanischer Kandidat übrig bleibt, günstig für Barack Obama. Die Vereinigten Staaten werden nie ein sozialdemokratisches Land, ein Wohlfahrtsstaat nach europäischem Muster werden. Aber dass man sich mit der Business-Elite nicht anlegen dürfte, ist durchaus kein Naturgesetz in den USA. Franklin D. Roosevelt hat in den 1930er Jahren die herrschenden Wirtschaftsinteressen mit einer Radikalität herausgefordert, die heute unerhört wäre. Und er hat damit Mehrheiten gewonnen. Nicht nur die Liebe zu free enterprise liegt in den amerikanischen historischen Genen, sondern auch der Widerwille gegen Privilegien, Unfairness und Herrschaftsallüren.

Obama bleibt ein politisch verwundbarer Präsident. Solange die wirtschaftliche Erholung fragil und die Arbeitslosigkeit hoch ist, muss er seine Abwahl im November fürchten. Auch ist die Kritik der Republikaner an ihm nicht komplett unberechtigt. Tatsächlich ist kein starker Wille zum Sparen und zu unangenehmen Besitzstandseingriffen bei der Obama-Regierung erkennbar, und ihre gesellschaftspolitischen Reflexe sind nicht, wie bei der Wahl 2008 versprochen, originell-überparteilich, sondern ziemlich konventionell links. Dass der Präsident einmal den öffentlichen Dienst oder irgendeine fortschrittliche Lobbygruppe mutig verärgert hätte, ist nicht erinnerlich.

Trotzdem ist seine Leistung beachtlich – viel beachtlicher, als die Obama-Hasser auf der Rechten und die Obama-Enttäuschten auf der Linken wahrhaben wollen, die ihm nicht verzeihen, dass er das Gefangenenlager Guantánamo nicht geschlossen oder zu viele neoliberale Wirtschaftsberater beschäftigt hat. Etwas größer muss man den Rahmen schon anlegen, wenn in diesem Jahr ein gerechtes Urteil über Barack Obamas erste Amtszeit fallen soll. Unter dem ungeheuren Druck der Krise und des gefährlichen politischen Frusts im eigenen Land hat er die Vereinigten Staaten global berechenbar gehalten. Er hat den Rückbau der unhaltbar gewordenen Übermachtstellung der USA in der Welt begonnen. Jetzt hat er die Chance, sein Bild von der Zukunft des amerikanischen Gesellschaftsmodells zu entwerfen. Die Debatte über die Ungleichheit ist dazu ein notwendiger Anfang.

About this publication