“White Trash” – die tödliche Gefahr für Amerika
Von Uwe Schmitt
26.02.2012
Ein konservativer Forscher widerspricht den US-Republikanern: Nicht die liberale Elite ist das Problem, sondern die Unterschicht. Deren Armut ist eine Folge moralischen Verfalls.
Newt Gingrich und Rick Santorum wissen, woran Amerika unter Barack Obamas Präsidentschaft krankt: korrupte, dekadente Eliten an den Küsten, die Gott und den Auserwähltheitscharakter der USA leugnen, die rechtschaffene, fromme Arbeiterfamilien im Herzland des Mittleren Westens mit noch höheren Steuern drangsalieren, mit Schwulenehe und Sozialismus.
Was wie eine Karikatur anmuten könnte, ist in vielen Wortmeldungen der beiden Präsidentschaftskandidaten der Republikaner verbürgt. Radikaler als der Mormone Mitt Romney zetteln die Katholiken Santorum und Gingrich alte Kulturkämpfe erneut an.
Es ist, so schwören sie, die Verderbtheit der Spitzenverdiener von der Wall Street, in Washington und in den liberalen Zirkeln der Metropolen, die Amerika vorsätzlich ruiniert.
Eliten als letzter Hort konservativer Werte
Ein Mangel dieses Weltbildes ist, dass Amerikas Wirklichkeit nicht recht mitspielt: In Wahrheit sind die Eliten der letzte Hort konservativer Werte, und vor allem die weiße Unterschicht lebt ohne Gott, Familie, Arbeitsmoral. Der neueste Zeuge für diesen Befund ist der Politologe Charles Murray, der als Libertärer und Forscher des konservativen Thinktanks American Enterprise Institute ein natürlicher Verbündeter Gingrichs und Santorums sein müsste.
Sein Buch „Coming Apart: The State of White America, 1960–2010“ stellt schon auf dem Einband klar, was da auseinanderbricht: Ein wohlgefülltes Champagnerglas schwebt am Himmel, auf dem Boden liegt eine zerquetschte Bierdose.
Mit einer Fülle von soziokulturellen Daten belegt Murray die extrem gewachsene Kluft zwischen den oberen 20 Prozent der Bevölkerung, die er stellvertretend im (tatsächlich existierenden) Belmont/Massachusetts ansiedelt, und dem Prekariat, rund 30 Prozent der Amerikaner, für die er das ebenso reale Fishtown/Pennsylvania als Chiffre benutzt.
Zwischen beiden Welten, so schreibt Murray und beweist es, gibt es keine Brücken, wie etwa früher den Wehrdienst. Man kennt einander nicht mehr.
Vor der Wirtschaftskraft sank die Moral der Arbeiter
Amerikas Eliten haben mit ihresgleichen in London, Delhi, Berlin und Hongkong mehr gemein als mit den ungebildeten, zornigen Zukurzgekommenen in derselben Stadt.
Noch Anfang der 60er-Jahre kostete eine Villa für die Erfolgreichsten (nur) das Doppelte eines Durchschnittshauses, für den teuersten Wagen, einen Cadillac Eldorado, musste man in heutigem Geldwert 47.000 Dollar bezahlen.
Beide Träume lagen dem amerikanischen Arbeiter fern, doch sie waren vom selben Planeten. Von seinem Lohn konnte eine Familie mit zwei oder drei Kindern anständig leben, und sein Boss verdiente das 20-Fache, nicht das 400-Fache.
All das ist vorbei. Und zwar, wie Charles Murray betont, unabhängig von der Konjunktur. Denn vor der Wirtschaftskraft sank die Moral.
Armut als Folge des Werteverfalls, nicht ökonomischer Bedingungen
Eine schleichende Schwächung der Werte, so seine These, erfasste die Menschen. Die Tugenden der Gründerväter – Fleiß, Ehrlichkeit, Glaube und Familiensinn – gerieten in die Defensive, in Misskredit, am Ende in Vergessenheit: Waren die Bewohner von Fishtown 1960 noch zu 84 Prozent verheiratet, fiel diese Zahl bis in die Nullerjahre auf 48 Prozent.
Die Zahl der Kinder, die in einem Haushalt mit beiden Eltern leben, stürzte von 96 auf 37 Prozent. Verhaftungsraten für Gewaltverbrechen vervierfachten sich in Fishtown, die Zahl der Arbeitsunfähigen stieg um das Fünffache auf zehn Prozent.
Im Jahr 2008 hatten dort zwölf Prozent der Männer zwischen 30 und 49 Jahren das Arbeiten aufgegeben, viermal so viele wie 1968. In den vier Jahrzehnten, die Murray analysiert, strömten legale wie illegale Immigranten ins Land, und sie sind für den Autor der Beweis, dass „Amerika für jeden, der arbeiten wollte, Arbeit hatte“.
Welche Art von Beschäftigung freilich, ohne gewerkschaftlichen Schutz von Lohn und Arbeitsbedingungen, ohne Pension und Krankenkasse, ist für Murray nicht ausschlaggebend. Er sieht die Misere in Fishtown als Konsequenz des Werteverfalls, nicht der ökonomischen Bedingungen – etwa des Verlustes ganzer Industrien durch Auslagerung in Billiglohnländer und die Entmachtung der US-Gewerkschaften unter Ronald Reagan.
Verdrehung von Ursache und Wirkung
Doch hier setzt die Kritik liberaler Ökonomen an Murrays These an. Paul Krugman, Nobelpreisträger für Ökonomie und Kolumnist der „New York Times“, bestreitet nicht die Daten, er stößt sich an dem, was Murray nicht erwähnt. Ursache und Wirkung würden dabei paradox verdreht. Zuerst habe es am Geld gemangelt, glaubt Krugman, am Fressen eben, erst dann an der Moral.
Seit 1973 seien die Einstiegslöhne für Schulabgänger (inflationsbereinigt) um 23 Prozent gefallen; zeitgleich verschwanden Sozialleistungen der Unternehmen: 1980 hatten noch fast zwei Drittel der Lohnempfänger Amerikas eine betriebliche Krankenversicherung, 2009 war ihre Zahl auf 29 Prozent gesunken.
„Wir sind also eine Gesellschaft geworden, in der schlechter ausgebildete Männer große Schwierigkeiten haben, Jobs mit anständigem Lohn und guten Sozialleistungen zu bekommen“, notiert Krugman: „Und doch sollen wir irgendwie überrascht sein, dass solche Männer weniger verlässlich am Arbeitsprozess teilnehmen oder heiraten, und wir sollen zu dem Schluss kommen, dass es einen geheimnisvollen moralischen Kollaps gegeben hat, verursacht von hochnäsigen Linksliberalen.“
Oberschichtler “sollen predigen, was sie praktizieren”
Wie die gut ausgebildeten, prächtig verdienenden Globalisierungsgewinner von Belmont für Barack Obama stimmen konnten, begreifen weder Gingrich noch Santorum – und auch, so scheint es, Charles Murray nicht. Die Kandidaten müssen enttäuscht sein, dass ausgerechnet in den gehobenen Kreisen, wo sie säkulare Dekadenz wähnen, die konservativen Werte am besten gedeihen.
In Belmont sind 83 Prozent der Einwohner verheiratet, 84 Prozent der Kinder leben in Haushalten mit beiden biologischen Eltern. Fast jeder Mann arbeitet, oft genug fleißig, lang, ehrgeizig und verlässlich. Nur in die Kirche gehen sie nicht so oft.
Murray verlangt von der Oberschicht in den Edelvororten von Belmont, sie solle ihre Zurückhaltung aufgeben und Fishtown klarmachen, dass Ehe, Familie und Selbstbestimmung (statt Sozialhilfe) der richtige Weg seien: „Sie sollen predigen, was sie praktizieren.“
Murray ignoriert gegenläufige Trends
Doch als lebende Leuchttürme stellen sich Gingrich und Santorum die von ihnen verachteten Eliten, denen sie selbst angehören, nicht vor. Insofern hat Murray recht, wenn er sein Buch mit dem Hinweis verteidigt, die Daten müssten Ideologen auf der Rechten wie der Linken verstören.
Er hält den Vorwürfen von Krugman und anderen entgegen, es gehe ihm weniger um Ursachenforschung als um das Anstoßen einer Debatte über die Zukunft der Leute von Fishtown. In Interviews hat er allerdings klargestellt, dass er die 60er-Jahre als sozialpolitisches Desaster sieht.
Der Anfang vom Ende sei gekommen, als „die Eliten Reformen durchsetzten, die für Geringverdienende die Signale für das, was sich lohnt, veränderten“. Murray ignoriere, so Krugman, gegenläufige Trends: den enormen Rückgang der Jugendschwangerschaft und der Gewaltverbrechen seit den 90er-Jahren.
Andere monieren, die Debatte über die Spaltung Amerikas sei ohnehin anachronistisch, weil die US-Eliten nicht etwa „amerikanische“ Werte hochhalten, sondern zu einer weltweiten Schicht von Globalisierungsgewinnern zählten.
“Mir ist der Rest der Welt hier gleichgültig”
Für den Libertären Murray kann der Staat niemals die Lösung eines Problems sein oder bieten. Er habe keine Rezepte, notiert er, wie den Menschen von Fishtown zu helfen sei. Nur: Almosen seien gewiss keine Lösung. Auf Debatten über die Globalisierung will er sich nicht einlassen: „Dieses Buch handelt ganz von Amerika. Und ein Hauptteil beschreibt, dass Amerika das Ausnahmeland ist, mit keiner anderen Nation vergleichbar. Und mir ist der Rest der Welt hier gleichgültig.“
Für die Occupy-Bewegung, die Amerika in ein Prozent Superreiche und 99 Prozent Verlierer gespalten sieht, hat Murray Sympathien. Denn der Zorn treffe das eine Prozent nicht wegen seines Geldes, sondern weil die „das System mit gezinkten Karten austricksen“.
Als Charles Murray vor 18 Jahren zusammen mit Richard Herrnstein sein Buch „The Bell Curve“ veröffentlichte, die Untersuchung eines angeblichen Intelligenzgefälles zwischen weißen und schwarzen Amerikanern, wurde er für Kollegen gewissermaßen unberührbar.
„Coming Apart“ ist umstritten, aber es wird ihn nicht abermals zum Paria machen. Jedenfalls werde dieses Buch sein letztes zum Thema sein, verspricht Murray: „Wenn ich die Leute damit nicht überzeugen kann, werde ich es auch nicht mit einem weiteren Buch schaffen.“
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