Nicht gegen, sondern mit Russland
Zwischen Chicago und St. Petersburg: Ost-West-Beziehungen auf dem Prüfstand
G-8-Gipfel in Camp David, Nato-Gipfel in Chicago, Russlands Präsident Putin blieb beiden fern. Heißt das nun kalter Wind aus Moskau, wie so viele Kommentatoren geschrieben haben? Oder wollte Putin nur eine persönliche Konfrontation vermeiden und damit das Tor offen halten für einen Neubeginn in den Ost-West-Beziehungen? Ich vermute eher Letzteres.
Am 13. April 2012 riefen der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt und der frühere amerikanische Senator Sam Nunn, einer der herausragendsten strategischen Köpfe der USA, dazu auf, das Ziel der Beseitigung aller nuklearen Waffen weiterzuverfolgen und auf dem Wege dorthin der Ausbreitung der Atomwaffenbesitzer einen Riegel vorzuschieben. Sie warnten dabei die westliche Allianz, den Aufbau eines Raketenabwehrsystems ohne Kooperation mit Russland voranzutreiben.
Die Konsultationen darüber laufen seit langem. Eine Übereinstimmung konnte noch nicht hergestellt werden, aber große Fortschritte wurden gemacht. Sollte man sich da nicht weiter um Kooperation bemühen? Wäre es nicht vernünftiger gewesen, der Fortsetzung der Gespräche mit Moskau den Vorrang zu geben, vor der nunmehr in Chicago getroffenen einseitigen Entscheidung über eine erste Stufe des Systems? Schmidt und Nunn haben doch recht, wenn sie vor einem neuen Rüstungswettlauf, vor der Rückkehr der Konfrontation und vor neuen Spannungen warnen. Warum hatte man es denn so eilig? Präsident Obama rief vor kurzem seinem Moskauer Kollegen Medwedew zu: Nach der Wahl könne er flexibler sein. Wer also waren wohl die Antreiber für diese überhastete kooperationsfeindliche Entscheidung in Chicago? Eilfertigkeit ist immer ein schlechter Ratgeber.
Die Nato ist ein politisches Bündnis, das macht ihre Stärke aus. Vergessen wir nicht, die Nato eröffnete mit dem Harmel-Bericht von 1967 den Weg für die Entspannungspolitik auf der Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit. Sie erklärte Rüstungskontrolle und Abrüstung zu integralen Bestandteilen ihrer Sicherheitspolitik. Das zusammen mit den deutschen Ostverträgen eröffnete den Weg zur KSZE und diese eine grundlegende Veränderung der Lage in Europa, sodass ein Mann wie Gorbatschow in Moskau als Generalsekretär der KPdSU überhaupt erst möglich wurde.
Heute geht es darum, dass Amerika, Europa und Russland ihre gemeinsamen Interessen gemeinsam definieren. Und diese Gemeinsamkeiten sind wesentlich größer, als es manche Sicherheitsbürokraten in Brüssel und auch solche in Washingtoner Amtsstuben wahrhaben wollen. Es gibt genug Probleme, die wir nur gemeinsam mit Russland lösen können: die Verhinderung neuer Atomwaffenbesitzer, die Verhinderung eines Krieges im Nahen und im Mittleren Osten; die Überwindung des israelisch-palästinensischen Konfliktes durch eine für alle Seiten akzeptable Friedenslösung…
Natürlich ist die Frage des Rückzugstermins aus Afghanistan, der in Chicago so viel Raum gegeben wurde, ein wichtiges Thema. Aber angesichts der vielen anderen sicherheitspolitischen Herausforderungen kommt auch und vielleicht zuvorderst dem künftigen Verhältnis zu unserem großen Nachbarn im Osten zentrale Bedeutung zu. In einer solchen Lage ist Staatskunst verlangt, und das heißt: Maßnahmen zu setzen, die die Chance für eine neue Kooperation zwischen Ost und West eröffnen, statt die Inkaufnahme der Gefahr einer neuen Konfrontation. Es geht darum, die neue Flexibilität zu nutzen, die Obama für die Zeit nach seiner Wiederwahl verspricht. Und es geht darum, dass Europa das große Versprechen der Charta für Europa von 1990 einlöst. Die Bewältigung der großen Probleme unserer Zeit geht nur mit Russland und nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland. (Hans-Dietrich Genscher, DER STANDARD, 5.6.2012)
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