Edited by Lydia Dallett
Zwei Auroras pro Tag
“Stars and Stripes” auf halbmast, tröstende Worte vom Präsidenten, geheuchelte Beileidsbekundungen der Waffenlobby: Nach dem Anschlag auf einen Sikh-Tempel im US-Bundesstaat Wisconsin gibt sich die Nation erneut der makaberen Routine im Umgang mit dem Massenmord hin. Konsequenzen muss die Waffenlobby auch diesmal nicht fürchten. Amerikas Politik ist feige – und jeder neue Tote ist Zeuge der Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung.
Amerika erlebt immer wieder dasselbe Schauspiel. Mal liegen 32 Studenten in ihrem Blut (Virginia 2007), mal trifft es sechs Unschuldige vor einem Supermarkt (Arizona 2011) oder zwölf Kinobesucher um Mitternacht (Colorado 2012). Und nun, nur 16 Tage nach Aurora, sterben sechs Gläubige im Örtchen Oak Creek in Wisconsin.
Die Nation beweist makabere Übung im Umgang mit dem Massenmord: Das Volk blickt im Fernsehen in die verzweifelten Gesichter der Hinterbliebenen, Reporter beteuern Mitleid, Politiker artikulieren Trauer und Entsetzen. Dann waltet der Präsident seines Amtes: Er lässt die “Stars and Stripes” über dem Weißen Haus auf halbmast setzen und findet, schon wieder, sinnige Worten ob sinnloser Gewalt. Das tröstet – bis zum nächsten Massaker.
Aber auch dies ist Teil der Routine: Wortgleich heuchelt die National Rifle Association (NRA) Sätze des Beileids – um dann zu warnen, nur ja nicht das Leid der Opfer “zu missbrauchen” und nun schärfere Gesetze gegen die notorische Waffengewalt im Land zu erwägen. Und siehe da, die Drohung wirkt: Zwar erschallen nach jedem Blutrausch Rufe nach härteren Regeln – aber seit zehn Jahren gibt sich die Politik ohnmächtig.
Der Präsident bittet zur Schweigeminute – und tut nichts
Kaum ein Kongressabgeordneter und schon gar kein Präsident trauen sich, den Zugriff auf das Mörderwerkzeug strenger zu kontrollieren. Das gilt auch für Barack Obama: Der Präsident bittet zur Schweigeminute – und tut hernach nichts.
Jeden Tag werden in den Vereinigten Staaten 24 Menschen mit einer Schusswaffe ermordet. Das macht, rein statistisch, einen Toten pro Stunde. Oder zwei Auroras pro Tag. Die Gefahr, in den USA erschossen zu werden, ist sechsmal höher als in Westeuropa. Eine Vereinigung von Bürgermeistern rechnet vor, innerhalb der vierjährigen Amtszeit des nächsten Präsidenten würden 48.000 Landsleute durch Waffengewalt umkommen. Und doch mag keiner der beiden Kandidaten den leisesten Vorschlag über die Lippen bringen, wie dem Blutvergießen Einhalt zu gebieten wäre.
Dafür gibt es Gründe, wahre und unwahre. Es stimmt, dass Amerikas Verfassung jedem Staatsbürger das Grundrecht zuspricht, “Waffen zu tragen und zu besitzen”. Ebenso richtig ist, dass der Oberste Gerichtshof dieses Privileg erst 2010 großzügiger denn je gedeutet hat – und dass eine knappe Mehrheit im Volk mittlerweile schärfere Gesetze ablehnt.
Furcht vor dem Zorn der Waffenlobby
Aber selbst konservative Richter räumen ein, die Verfassung erlaube es sehr wohl, Verbote zu erneuern, wie sie schon von 1994 bis 2004 galten: Damals waren Schnellfeuergewehre (wie sie der Batman-Killer benutzte) wie Mega-Magazine mit mehr als zehn Patronen (Hilfsmittel der Amokläufer von Tucson und Aurora) verboten. Umfragen zeigen, dass selbst eine Mehrheit der vier Millionen NRA-Mitglieder es befürwortet, Waffenscheine nur an Mitmenschen auszugeben, die nachweislich weder kriminell, drogenabhängig oder geistesgestört sind.
Dass dennoch nichts passiert, ist letztlich Folge eines falschen Mythos: Seit zwölf Jahren leben allen voran Amerikas Demokraten in der Furcht, den Zorn der angeblich allmächtigen NRA auf sich zu ziehen. Studien beweisen zwar, dass die Macht der Waffenlobby weit geringer ist als vermutet. Aber seit der Niederlage von Al Gore im Jahr 2000 blickt Obamas Partei in Angststarre auf die NRA wie das sprichwörtliche Kaninchen auf die Schlange.
Bei den Anschlägen vom 11. September kamen dreitausend Menschen ums Leben. Amerika zog deshalb in zwei Kriege. Die Nation mag es nicht wahrhaben – aber jedes Jahr erliegen dreimal so viele Menschen der Mordkraft der 300 Millionen Schusswaffen im Land. Gesetze allein können bei Weitem nicht alle Opfer retten. Aber doch wenigstens einige.
Und jeder Tote ist Zeuge der Anklage gegen Amerikas feige Politik – wegen unterlassener Hilfeleistung.
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