Gegenden wie in der Dritten Welt
Der Sheriff wuchtet sich aus seinem Sessel und geht an seinen Schreibtisch, ein Riesending aus dunklem Holz. Er wühlt in der Ablage, zieht einen Brief hervor, schwenkt ihn triumphierend, »hier, lesen Sie!«. Es ist eine Resolution des Landesparlaments von Kentucky. Die Abgeordneten danken dem Sheriff für seine vorbildliche Arbeit nach dem Attentat.
»Glauben Sie, das Parlament von Arizona hätte mir auch so einen Brief geschrieben?« Kein Wort, im Gegenteil. In Arizona sammelten die Rechten Geld und engagierten einen Kampagnenmanager, um Dupnik aus dem Amt zu jagen.
»Die Linken, die Liberalen, sie haben aufgegeben.« Dupnik nicht. »Eigentlich wollte ich mich jetzt so langsam in den Schaukelstuhl setzen und ein kühles Bier im Schatten trinken.« Aber daraus wird nichts. Dupnik tritt im Herbst noch einmal an. »Ich war mein Leben lang ein Kämpfer. Die wollen mich aus dem Amt treiben? Das lasse ich nicht mit mir machen.«
Einer, der Dupnik loswerden will, ist Ralph Kayser. Ich treffe ihn in einem Starbucks am anderen Ende der Stadt.
Kayser ist ein korpulenter Mann, graue Haare, futuristische Brille, rot gestreiftes Hemd. Ein mittelständischer Unternehmer. Seine Firma räumt Baustellen auf, beseitigt Schutt und Abfall.
»Tragen Sie eigentlich eine Waffe, Mister Kayser?«
Diese Frage habe ich noch nie einem Gesprächspartner gestellt, auch nicht während meiner Zeit als Korrespondent in Amerika. Es ist kein Witz, keine Provokation, es ist mir ernst. Kaum irgendwo sonst gelten so lasche Waffengesetze wie in Arizona. Ich versuche mir vorzustellen, was das für ein Gefühl wäre, wenn Kayser jetzt Ja sagen und wirklich eine geladene Pistole auf den Tisch zwischen uns legen würde.
Aber nein, keine Waffe. Nicht hier. »Mein Gewehr steht zu Hause im Schrank.«
Er sagt es so selbstverständlich, als spräche er von einem Zweitwagen.
Und seine Mitstreiter? Ja, die tragen Waffen, auch im Alltag. Sogar die Frauen. »Letztens hatten wir ein fundraising dinner und haben mal gefragt, welche Dame eine Waffe dabeihat. 20 der 30 Ladys öffneten ihre Handtasche.«
Ralph Kayser ist Vorsitzender der Tea Party von Tucson. Es ist der größte Ortsverband der konservativen Bewegung, die überall in den Vereinigten Staaten die Politik durcheinandergewirbelt hat. »Wir sind laut, wir sind wütend, wir sind viele«, sagt Kayser.
Wütend, weil man kaum mehr an die mexikanische Grenze fahren könne. Dort herrschten die Drogenkartelle. Wütend, weil gerade ein Ranger im Dienst ermordet wurde. Von Schleusern, die Latinos illegal über die Grenze bringen. »Wütend, weil Sozialisten wie Obama unser Geld verschleudern. Und das Geld unserer Kinder. Wir sind die schweigende Mehrheit.«
Es gibt eine Szene in Früchte des Zorns, in der die Familie Joad in ihrem klapprigen Lastwagen nach tagelanger Reise die Passhöhe der Tehachapi-Berge erreicht und hinunterschaut nach Kalifornien, in das verheißungsvolle Land. »Die Pfirsichbäume und die Walnußwäldchen und die dunkelgrünen Orangenhecken… Ruthie und Winfield rutschten vom Wagen herunter, und dann standen sie da, schweigend und ehrfürchtig, und betrachteten das große Tal.«
Die Stelle, an der Steinbecks Familie Joad endlich Kalifornien erreicht, gibt es heute nicht mehr. Eine Autobahn brettert darüber. Und heute ist Kalifornien nicht mal mehr ein Zufluchtsort für die Verzweifelten und Gescheiterten. Der Staat ist heftig verschuldet, die Arbeitslosigkeit liegt über dem US-Durchschnitt, Sozialleistungen werden massiv gekürzt. Viele Menschen verlassen den Bundesstaat. Menschen wie Jonathan und seine Familie.
Ich fahre weiter, ans Meer, nach Carmel, einem romantischen Badeort, suche mir etwas zu essen. Ein Italiener, lärmend, duftend. Haben Sie reserviert? Nein. Es ist ein Dienstagabend. Ich setze mich an die Bar. Das Glas Weißwein kostet zehn Dollar aufwärts.
»Sie waren in Oklahoma City?«, fragen mich Paul und Cynthia, die neben mir auf einen Tisch warten. »Was zum Teufel haben Sie da gemacht?«
Sie arbeiten oben im Silicon Valley, weiß, Mitte 50. Ich erzähle von dem kaputten Land, das ich gesehen habe, von dem armen Amerika hinter den Bergen.
Ja, sagt Paul, es gibt da Gegenden, die sind Dritte Welt.
Dann wird ihr Tisch frei. Alles Gute, sagen sie, »have a great time!«
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