Das Massaker von Newtown zwingt zum Umdenken
von Caroline Fetscher
16.12.2012 21:46 Uhr
Es ist die Stunde der Experten: Nicht nur Amerika, die ganze Welt, sucht nach dem willkürlichen Mord an 20 Kindern nach Antworten auf etwas scheinbar Unbegreifliches. Doch eine Gesellschaft, die sich an Stereotypen festhält und vermeintlich nahe liegende Lösungen propagiert, macht es sich zu leicht.
Experten, Experten, Experten. Zu Sicherheit und Waffen, von der CIA und der Nasa – eine Nation sucht in endlosen Stereotypen nach Antworten auf das Unfassbare: Amerika steht nach dem Grundschulmassaker unter Schock. Stunden über Stunden werden technische Fragen analysiert, für manche Fragen und mögliche Antworten aber scheint noch immer eine Art unsichtbares Verbot zu herrschen.
Amerikanische Fernseh-Reporter versichern verunsicherten Zuschauern, sie würden den Namen des Amokläufers so selten als möglich nennen, um Adam Lanza den posthumen Ruhm zu verweigern, um den es Seinesgleichen gehe – als ließe sich ein Täter bannen wie der Teufel, und als könnte nicht auch pausenloses Berichten selbst schon den Zweck erfüllen, bestimmten Tätern grandiose Befriedigung zu verschaffen.
All das passt zu zwei regressiven Trends der Gegenwart: Biologisierung wie Entsäkularisierung schränken in der westlichen Welt die Fähigkeit von Gesellschaften ein, sich selbst frei zu beobachten. Beides wird als eine Art Schutzmechanismus benutzt, man flüchtet sich in vermeintliche Lösungen, vermeidet die Reflexion über größere Zusammenhänge. So setzt die biologische Sicht von scheinbar unerklärlichem Verhalten auf hirnphysiologische Datenerhebung und Medikamentierung, sobald Kinder und Jugendliche psychische Auffälligkeiten zeigen. Mechanisch muss sich das doch lösen lassen, scheint die Idee dahinter zu sein. Im Fall von Newtown/Connecticut heißt es aus dieser Richtung: Hätte der Täter nur mal die richtigen Pillen geschluckt, zur Tat wäre es dann nicht gekommen.
Als Folge solcher Sicht auf schwierige Fragen sind heute in Deutschland Hunderttausende gesunder Kinder „auf Ritalin“. Anstatt mit ihnen zusammen zu erkunden, was ihr Handeln symbolisch aussagt, und ihnen Deutungen anzubieten, die es erlauben, dass sie sich und andere besser verstehen, werden die Auffälligen im Wortsinn eingekapselt. Religiöse oder esoterische Widersacher sozialer Aufklärung sprechen bei Täten wie Adam Lanza schnell vom „Bösen“, für die Genese kriminellen Verhaltens wird Satan eingespannt.
Statistisches Messen, Kontrollieren und Dopen herrschen auf der einen Seite, Dämonisieren und Bannen auf der anderen. Anhänger beider Trends fürchten das Erkennen der Dynamik einer Gesellschaft, die weder durch Neuronen noch durch Geister bestimmt wird, sondern zu der alle ihre Mitglieder gehören, für die letzten Endes wir alle mit verantwortlich sind. Gescheut wird die schwere emotionale, soziale Anstrengung, zu verstehen, was Taten und Täter symbolisieren, was sie für eine Gesellschaft bedeuten und über sie aussagen. Es käme zum Beispiel darauf an zu verstehen, inwieweit in einem Rechtsstaat Waffen in massenhaftem Privatbesitz der Ausdruck sind für die technizistische Illusion von Kontrolle über das eigene Leben.
Mit dem Massaker von Newtown an kleinen Kindern scheint jetzt jedoch eine Grenze erreicht zu sein, es scheint die Chance der empathischen wie analytischen Deutung näher zu rücken, die auch die sozialen Dimensionen klarer vor Augen hat. Der Sender CNN interviewte zum Beispiel Katherine Newman, Professorin in Princeton und Autorin eines Buches über die sozialen Ursachen von Schulmassakern in vermeintlich idyllischen Kleinstädten, zu denen sich auch Newtown bis Freitag zählte. Leute wie Newman liefern verantwortliche Antworten. Ihre Stunde ist da.
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