The NRA Is King Herod Today

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NACH DEM AMOKLAUF: Herodes heute

Gibt es eine Lehre, wenigstens aber eine Konsequenz aus den Kindermorden in Newtown?

Es gibt einen Glauben, an dem jede Gesellschaft auf dieser Welt festhält, ja festhalten muss: der Glaube, dass Kindern eine Unschuld innewohnt, die sie vor Bösem schützt. Dass selbst der brutalste und verrückteste Mörder den Finger vom Abzug nimmt, wenn sechsjährige Schüler vor ihm stehen.

Wir wissen, wie trügerisch dieser Glaube ist. Kinder sterben in Kriegen, sie werden Opfer von Verbrechen. Amerika hat eine traurige Geschichte von Amokläufen auch und gerade an Schulen. Aber selten zuvor wurde dieses zivilisatorische Tabu im Alltag einer westlichen Gesellschaft so dramatisch und so erschütternd gebrochen wie im amerikanischen Newtown. Denn nie zuvor hat jemand in den USA mit einem Sturmgewehr in einer Grundschule zwanzig Erst- und Zweitklässler niedergemäht. Das macht das Massaker von Newtown zu einem Trauma, das über Amerikas nationale Grenzen hinausreicht.

Deshalb genügt es nicht, sich in vorauseilender Resignation wieder einmal über den »uramerikanischen« Waffenwahn zu ereifern, die US-Waffenlobby für allmächtig und die dazugehörige Gesellschaft für archaisch zu erklären. Erstens ist die Obsession mit Gewehren und Pistolen relativ neu. Zweitens sind die Waffennarren nur so mächtig, wie ihre Gegner es ihnen erlauben. Das heißt schlicht: Die Zeiten waren schon einmal anders – und sie müssen wieder anders werden. Nicht nur um der Amerikaner willen, sondern auch um der restlichen Welt willen.

Pistolen und Gewehre sind die wahren Massenvernichtungswaffen

Denn solange US-Regierungen, egal, welcher Couleur, im politischen Schwitzkasten der gun lobby stecken, blockieren sie auch auf internationaler Ebene alle Versuche, die Verbreitung der sogenannten small arms einzudämmen. Kleinwaffen – dieser niedlich klingende Name ist der Fachbegriff für die Massenvernichtungsmittel unserer Zeit: Nicht Atomsprengköpfe oder chemische Kampfstoffe richten auf der Welt die größte Verheerung an, sondern Pistolen, Revolver und Sturmgewehre. Weil die Vereinten Nationen an Konventionen zur Regulierung des Handels mit Kleinwaffen arbeiten, gelten auch sie für die National Rifle Association (NRA) als Feinde des vermeintlichen Bürgerrechts, wonach sich jedermann ausstatten darf wie ein Scharfschütze.

Eines vorweg: Egal, wie Barack Obama nun die Waffengesetze in den USA verschärfen will (und er wird es versuchen), das nächste Massaker kann er wohl nicht verhindern. In den USA verteilen sich über 300 Millionen Handfeuerwaffen auf etwa ein Drittel aller Haushalte. Aus diesem unfassbaren Arsenal bedienen sich nicht nur Amokläufer, sondern auch Drogenhändler, Gangmitglieder sowie Durchschnittsbürger, die ihren Familienstreit mit dem Revolver beenden.

Rechnet man die aktuellen Statistiken hoch, werden in Obamas zweiter Amtszeit fast 50.000 Amerikaner durch Schusswaffen sterben. Wozu dann all die Mühe, um den Verkauf von ein paar Hunderttausend zusätzlichen Gewehren und Pistolen zu verhindern?

Weil historische gesellschaftliche Reformen – und die Demilitarisierung Amerikas wäre eine – immer mit einem Kampf um die Debattenhoheit beginnen. Die gun lobby fordert als logische Konsequenz aus dem Massaker von Newtown nun die Bewaffnung der Lehrer. Diese Logik der unendlichen Aufrüstung für wahnsinnig und einer fortschrittlichen Gesellschaft für unwürdig zu erklären wäre ein erster Schritt, mit dem Trauma von Newtown umzugehen.

Amokläufer sind kein amerikanisches Phänomen, und jede Gesellschaft muss auf ihre Weise mit diesem Eindringen des scheinbar puren Bösen umgehen. Norwegen versicherte sich in einem schmerzhaften öffentlichen Gerichtsprozess gegen Anders Breivik, dass es auch nach einem Massaker wie dem von Utoya an seinen rechtsstaatlichen und rechtspolitischen Prinzipien festhält. In Großbritannien, wo 1996 in Dunblane schon einmal ein Attentäter ein Blutbad unter Grundschülern anrichtete, reagierte die Politik mit einem weitreichenden Waffenverbot. Deutschland musste nach den Schulmassakern von Erfurt und Winnenden erkennen, dass erschreckend viele Waffen in Umlauf sind, was wiederum mehrere Tausend Besitzer dazu veranlasste, ihre Gewehre und Pistolen abzugeben.

Zwar ist keineswegs gesichert, dass der Amoklauf von Newtown eine kathartische Wirkung auf die USA haben wird. Aber es ist vorstellbar. Man erinnere sich an die neunziger Jahre, als eine Protestbewegung Amerikas »Liebesaffäre« mit der Schusswaffe für »unpatriotisch« erklärte und die Clinton-Regierung eine Gesetzesverschärfung durchsetzte. Dann kam der 11. September 2001, in dessen Folge jede Forderung nach Waffenkontrolle faktisch zum Landesverrat wurde.

Über zehn Jahre später bröckelt diese ideologische Front. Die Tea Party, zu deren Grundpfeilern der uneingeschränkte Waffenbesitz gehört, hat bei den vergangenen Wahlen eine Schlappe einstecken müssen. Hispanics, die am schnellsten wachsende Minderheit, halten Schusswaffen eher für eine Gefahr als für ein Haushaltsgerät – nicht zuletzt auch darum, weil in den inner cities oft ihre eigenen Kinder den Kugeln zum Opfer fallen. Und auf der Ebene der Kommunen haben inzwischen über 700 Bürgermeister aus beiden Parteien eine Koalition gegen den Waffenwahn gebildet. Obama bietet sich also die historische Chance eines Abrüstungsprozesses. Erst in den Köpfen und Waffenschränken seiner Landsleute. Dann weltweit im Kampf gegen Kleinwaffen.

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