Amoklauf von Newtown Gut – Böse und die Frage der Gewalt
Von Arno Widmann
30. Dezember 2012
Ist dem Bösen, der einen Colt hat, nur ein Guter gewachsen, der auch einen Colt hat? Ein Blick auf John Fords Klassiker „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ kann da weiterhelfen.
Eine Woche lang hatte die normalerweise sehr schnell reagierende National Rifle Association (NRA) gewartet, bis sie am Freitag vor Heiligabend mit ihrer Weihnachtsbotschaft zum Massaker an der Sandy Hook Elementary School in der idyllischen Kleinstadt (27.000 Einwohner) Newtown im amerikanischen Bundesstaat Connecticut herausrückte. Der Vizepräsident der Organisation Wayne LaPierre erklärte, es sei höchste Zeit, dass der Kongress, also das nationale Parlament, genügend Mittel bereitstelle, um jede amerikanische Schule unter bewaffneten Schutz zu stellen.
„Unsere Politiker haben Schulen im ganzen Land zu waffenfreien Zonen erklärt. Damit haben sie jedem verrückten Killer in Amerika gesagt: Schulen sind für Euch der sicherste Ort. Hier könnt ihr mit dem kleinsten Risiko die größte Wirkung erzielen. Unsere Werte sind völlig durcheinandergekommen. Banken, Bürogebäude, Flughäfen, Elektrizitätswerke, Sportstadien werden von bewaffneten Sicherheitsdiensten bewacht, nur Schulen nicht. Nur die meistgeliebten, unschuldigsten, verletzlichsten Mitglieder der amerikanischen Familie, unsere Kinder, lässt unsere Gesellschaft schutzlos. Die Monster, die Raubtiere der Welt wissen das und nutzen das aus. Das muss sich ändern. Jetzt. Die Wahrheit ist: Unsere Gesellschaft wird von einer unbekannten Anzahl wirklicher Monster bevölkert. Menschen, die so verstört sind, so böse, so besessen von Stimmen und Dämonen, dass kein vernünftiger Mensch sie verstehen kann. Sie sind unter uns. Tag für Tag. Auch der nächste Adam Lanza. Wir kennen ihn nicht. Sind es Dutzende? Hunderte? Wie sollen wir auch nur ahnen können, wie viele es sind?“ Schon drei Tage nach dieser Rede, am Heiligen Abend, erschoss ein 62-jähriger Mann im Bundesstaat New York zwei Feuerwehrleute, seine Schwester und danach sich selbst. Auch mit einer Bushmaster 223.
Wayne LaPierre setzte seine Rede fort. In den Medien, in Filmen, Songs und Videospielen werde Mord und Vergewaltigung gefeiert. „Und sie nennen es Unterhaltung. Ein Kind, das heute in Amerika aufwächst, wird bis zu seinem 18. Lebensjahr Zeuge von 16.000 Morden und 200.000 Gewaltakten. Die Medien aber, statt sich ihrem eigenen moralischen Versagen zu stellen, dämonisieren die Waffenbesitzer.“ Und dann kommt der Satz der Sätze, der Kernpunkt der Botschaft: „Das Einzige, das einen bösen Kerl mit Waffe aufhalten kann, ist ein guter Kerl mit Waffe.“ Oder im O-Ton: „The only thing that stops a bad guy with a gun is a good guy with a gun.“
In einer Wahnwelt
Wayne LaPierre bewegt sich in einer Wahnwelt. Nicht, weil er alles falsch sieht, sondern weil er sich ausnimmt. Er sieht sich umgeben von einer unbekannten Zahl von irren Monstern, von Menschen, die Zeitbomben sind und jede Minute explodieren können. Ich halte das für eine ganz realistische Ansicht. Gerade darum ist es komplett daneben, Waffen unter die Irren zu streuen. Das kann nur der tun, der sich völlig sicher ist, nicht eines der Monster zu sein oder doch zu einem werden zu können in dieser oder jener Situation.
Es empfiehlt sich, die Rede von Wayne LaPierre zu hören. Mit den Pausen, mit den Zwischenrufen: „Die NRA soll sich schämen. An ihren Händen klebt Blut.“ Zum Beispiel auf der Website des National Public Radio. Man merkt dann, wie ein Mann, während er beschreibt, wie die Wahnsinnigen sich von Dämonen besessen fühlen, selbst zu einem von Dämonen besessenen Wahnsinnigen wird, der kein anderes Mittel mehr anerkennt als einzuschießen auf die, die um sich schießen.
Um sich schlagende Angst
Solange man Wayne LaPierre nur liest, könnte man glauben, man habe es mit einem Argument zu tun. Hört man ihn, dann spürt man die Angst, die sich nur noch mühsam im Zaume haltende, hier nur verbal um sich schlagende Angst. Er hat in vielem recht. Natürlich ist die literarische, die filmische Produktion zu einem Gutteil Gewaltverherrlichung. Sie ist es allerdings nicht erst seit Homer. Sie diente immer wieder auch zur Anstachelung zur Gewalt. Es wäre gut, wir wüssten mit unserer Fantasie besser hauszuhalten, wir verstünden uns darauf, die Grenzen zwischen dem Abballern der Feinde im Videogame und dem unserer Freund-Feinde auf dem Schulhof genauer zu ziehen.
Man muss freilich sagen, dass, was die Menge und die Art von Gewaltdarstellungen betrifft, die im Internet zu haben sind, unsere Epoche sicher einen Rekord nach dem anderen aufstellt. Wer das sagt, der muss sich allerdings auch sagen, dass im Vergleich dazu wenig passiert. Zu den Massenschlächtereien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, an denen unsere Eltern oder Großeltern beteiligt waren, kam es noch gänzlich ohne die von Wayne LaPierre geschilderte Gewaltpropaganda der Medien.
Eine Enthüllungsgeschichte
Verlassen wir den 20-jährigen Adam Lanza und die LaPierre’schen Dämonen. Denken wir zurück an den Satz, dass das Einzige, was einen bewaffneten bösen Kerl aufhalten könne, ein bewaffneter guter Kerl sei. Jeder, der Western gesehen hat, kennt diesen Satz. Er ist die Botschaft all dieser Filme. Die um sich ballernden Bösen müssen von noch besser um sich ballernden Guten erledigt werden. Ein für alle Mal. Film um Film.
John Wayne ist in weit mehr als 150 Filmen der Überbringer dieser Botschaft. Auch in John Fords Film „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ aus dem Jahre 1962. Er erklärt dem jungen Mann, der gerade sein Jurastudium abgeschlossen hat und sich in Shinbone als Anwalt niederlassen möchte, dargestellt von James Stewart: Gegen den Colt des Gangsters Liberty Valance helfe nur ein anderer Colt. Kein Gesetzbuch. Es kommt zu einem Showdown, bei dem James Stewart und Liberty Valance (Lee Marvin) einander gegenüber stehen. Liberty Valance fällt von einer Kugel aus Stewarts Revolver tödlich getroffen zur Erde.
Glaubt James Stewart, glauben alle. James Stewart, der Mann des Gesetzes, etabliert das Recht in Shinbone. Die Macht der Gangster wird gebrochen. James Stewart macht Karriere als der Mann, der Liberty Valance erschoss. In Wahrheit freilich hatte John Wayne Liberty Valance abgeknallt. Aus dem Hinterhalt mit einem Gewehr. Als ich in den 60er Jahren diesen Film sah, las ich ihn als eine Enthüllungsgeschichte: Recht und Ordnung gehen nicht aus Recht und Ordnung hervor, sie sind nicht Produkte eines Vertrages. Sie werden durch eine Gewalttat hergestellt. Den Film so zu lesen, war nicht verkehrt. Er sagt das auch.
Aber er erzählt noch eine andere Geschichte. Als James Stewart nach Shinbone kam, war der Ort, in dem Bauern und Kaufleute lebten, auf einem sogenannten „freien Territorium“, also nicht Teil eines Staates. „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ handelt davon, wie aus einem freien Territorium ein Staat wird.
Der eigentliche Held
Der Film macht auch Schluss mit der Vorstellung, die Staatlichkeit erwachse aus der Anarchie, die Herrschaft des Gesetzes löse eine Zeit ab, in der jeder jeden niederballerte. Es wird bald klar, dass es in Wahrheit nicht um Liberty Valance und seine Bande geht. Der Gangster und seine Gang sind der militärische Arm der Großgrundbesitzer bei ihrem Kampf gegen die Versuche der kleinen Bauern und Geschäftetreibenden, einen Staat zu schaffen, eine Organisation, die – auf von allen beschlossenen Gesetzen beruhend – das Wohlergehen aller und nicht das einer kleinen Gruppe schützt.
Der Film glaubt nicht daran, dass der Einzelne sich schützen kann gegen den Anderen, der sich und seine Interessen durchsetzen möchte. Er geht davon aus, dass nur, wenn alle zusammen sich einig sind, dass keiner Gewalt ausüben soll über einen anderen, es möglich ist, die immer wieder wuchernden wahnsinnigen oder auch nur berechnenden Machtgelüste Einzelner einzudämmen. Dafür steht in diesem Film James Stewart. Er ist der Mann des Gesetzes, der Liberty Valance erschoss.
Die Wahrheit aber ist, dass auch er, ohne es zu wissen, einen bewaffneten Arm hatte, der ihm erst den Weg frei schoss, auf dem er dem Gesetz Geltung verschaffen konnte. Der eigentliche Held der Geschichte ist also John Wayne. Er ist der Held, weil er es war, der Liberty Valance erschoss. Er ist es aber noch mehr, weil er danach seinen Colt weglegte, zurücktrat und alles Weitere dem Mann des Gesetzes überließ.
Es gab eine Situation, in der er zu Recht sagte: Der böse Kerl mit der Waffe kann nur von einem guten Kerl mit der Waffe vertrieben werden. Aber er wusste, dass genau das kein Gesetz ist, sondern die Beschreibung einer Ausnahmesituation, einer Situation, in der eine Ordnung durch eine andere abgelöst werden soll.
Recht für den Reflex
Die Vorstellung, jeder müsse in die Lage gesetzt werden, das Seine und die Seinen gegen die anderen zu verteidigen, ist keine Lösung, sondern die Auflösung der bestehenden Ordnung. Es ist der Versuch, einem Reflex – Charles Bronson in „Ein Mann sieht rot“ oder Michael Douglas in „Ein ganz normaler Tag“ – Recht zu verschaffen. Einem Reflex, den jeder von uns gut verstehen kann: Ihm aber nachzugeben, heißt, sich zu verabschieden aus der menschlichen Gesellschaft.
Wayne LaPierre – als er 1948 geboren wurde, hatte John Wayne schon mehr als einhundert Filme gedreht, in denen er immer wieder klarmachte, dass es nicht auf Gesetze und ihre Auslegung ankommt, sondern auf den überlegenen Einsatz des Colts – will die Nation, den Nationalstaat, wieder zu einem „freien Gebiet“ machen. „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ beschreibt die Begründung von Staatlichkeit. Es wäre aber eine Illusion anzunehmen, dergleichen könnte einmal für alle Zeit getan werden. Jeder Staat ist ein gefährdeter Staat. Nicht nur, weil immer wieder eine Rote oder eine Braune Armeefraktion, der bewaffnete Arm einer Gruppe ihm den Krieg erklärt.
Viel gefährdeter ist er, weil versucht wird, den Staat zu kapern, ihn und seine Institutionen als Beute zu nehmen. Polizei und Staatsanwaltschaft zum Beispiel nicht als unser aller Polizei und Staatsanwaltschaft zu betrachten, sondern als die eigene.
Die Deutsche Bank
Es gab eine Zeit, da blickten wir in Deutschland gerne hinüber nach Italien. Es bildete sich so etwas wie eine Toskana-Fraktion. Wir irrten uns. Genau das waren die Jahre, in denen der Medienunternehmer Berlusconi von der Sozialistischen Partei Bettino Craxis hochgepäppelt, ja in den Sattel gehoben wurde.
Aber wir müssen nicht über die Alpen schauen. Wir können einen Blick werfen auf eine unserer wichtigsten Institutionen. Richtig: Die Deutsche Bank. Deren Vorstandschef Jürgen Fitschen rief zwar nicht nach seiner bewaffneten Gang, um sich gegen den Mann des Gesetzes, die Staatsanwaltschaft zu wehren. Er betrachtete den Staat als seinen Staat und nicht als Staat aller. So glaubte er sich völlig im Recht, den Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Volker Bouffier, anzurufen, damit er Polizei und Staatsanwälte zurückpfeife.
Recht und Gesetz müssen verteidigt werden. Mit Recht und Gesetz. Sonder- und Ausnahmeregelungen für die einen oder für diese und jene Fälle führen nur dazu, dass andere für andere Fälle das gleiche Recht auf Ausnahme- und Sonderregelungen in Anspruch nehmen. Für uns alle mehr oder weniger von Dämonen besessenen Wahnsinnigen muss das gleiche Recht gelten. Keiner von uns ist so sehr der Gute, dass wir ihm das Recht zubilligen können, auf die Bösen zu schießen. Die Polizei darf das – unter bestimmten Umständen.
Nicht weil sie die Guten sind, sondern weil sie es in unser aller Auftrag, unter unser aller Kontrolle tut.
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