Sechsjährige Kinder, durchsiebt von Kugeln
Von Uwe Schmitt
11.01.13
Nach Newtown soll sich etwas ändern: US-Vizepräsident Joe Biden plädiert für schärfere Kontrollen und verhandelt mit Waffenlobby und Waffengegnern. Doch die Aussichten auf Reformen stehen schlecht.
Jeder Mensch, der ein Herz hat, konnte schmerzlich fühlen, in wessen Gedenken Amerikas Vizepräsident Joe Biden am Donnerstag mit der Waffenlobby verhandelte: “Nichts hat Amerika so tief berührt wie die Vorstellung von kleinen, sechsjährigen Kindern – nicht nur angeschossen, sondern durchsiebt, durchsiebt von Kugeln…”.
Die 20 toten Kinder und fünf ermordeten Lehrer von Newtown sind Zeugen der Anklage in dem politischen und gesellschaftlichen Prozess, den Biden im Auftrag von Präsident Obama anstoßen will.
Drei Tage lang suchte der Vizepräsident und seine Gruppe von Regierungsvertretern das Gespräch mit Pastoren und Lehrern, Psychiatern, Polizisten und Waffen-Lobbyisten, Waffengegnern und Angehörigen von Opfern sowie Produzenten von Videospielen, die virtuellen Massenmord trainieren und belohnen.
Am kommenden Dienstag will Biden dem Präsidenten Empfehlungen unterbreiten, die den Morden von Newtown etwas von der unerträglichen Sinnlosigkeit nähmen. Während Bidens Verhandlungen liefen, schoss im kalifornischen Bakersfield ein 16-Jähriger zwei Mitschüler nieder. Ein (unbewaffneter) Lehrer überredete den Schützen zum Aufgeben.
Harte Konfrontation
Auch die “National Rifle Association” (NRA), der Kampfbund für das Verfassungsrecht, Waffen zu besitzen und zu tragen, war von Biden eingeladen worden. Niemand erwartete einen echten Dialog, allenfalls die Einigung, sich nicht einigen zu können. Die NRA enttäuschte nicht und zeigte ein Herz für ihre über zwei Millionen Mitglieder.
Minuten nach dem Ende der Sitzung veröffentlichte der Verband ein knappes Statement, das Enttäuschung über Bidens “Agenda, den zweiten Verfassungszusatz anzugreifen,” bekundete. Auf die drängenden Probleme des Landes finde die Regierung nur “untaugliche Lösungen”: “Wir werden nicht zulassen, dass gesetzestreue Waffenbesitzer für die Taten von Kriminellen und Verrückten verantwortlich gemacht werden.”
Ungenügende Kontrollen beim Waffenverkauf
Joe Biden und die NRA waren einander schon immer in Verachtung zugetan, und das Treffen brachte nicht mehr als einen Haken auf der Checkliste. Seit Jahrzehnten erteilte der Verband dem Senator aus Delaware Joe Biden seine schlechteste Zensur, ein “F” (in einer Skala, die mit A plus beginnt). Biden stimmte zuletzt 2007 im Oberhaus für eine Erneuerung des Verbots von militärischen Schnellfeuergewehren – das sogenannte “Brady-Gesetz” war 2004 nach zehn Jahren ausgelaufen.
Schon 1999 stimmte Senator Biden für die Einführung von polizeilichen Führungszeugnissen auf Waffenmessen. Vergebens. Auf den Messen werden bis heute rund 40 Prozent der Schusswaffen in Amerika ohne “background checks”, die in Waffengeschäften in vielen Staaten Pflicht sind, verkauft.
Dass diese Überprüfungen nur Minuten am Telefon in Anspruch nehmen, sei angefügt. Abertausende lügen jedes Jahr ungestraft bei ihren Anträgen für die Führungszeugnisse. Es ist schwerer, eine Ausschanklizenz für Alkohol zu bekommen oder auch nur Kunde bei einem Stromanbieter zu werden.
Kaum Chancen für schärfere Gesetze
Auf Joe Biden war Verlass, wann immer der Senat einen Versuch unternahm, den Verkauf und Besitz von Schusswaffen durch Bundesgesetze besser zu regeln. Zwar siegte fast immer die NRA. Doch die Waffen zu strecken, ist für Biden keine Option. Nun geht es in den (noch geheimen) Plänen der Regierung nach Newtown wieder um die Schließung der Gesetzeslücke bei Waffenmessen, eine Ächtung von “Kriegswaffen” (Obama) für Zivilisten, ein bundesweites Registrierungssystem für Waffen und die Abschaffung von Magazinen, die mehr als zehn Schuss fassen und die Massenmorde innerhalb weniger Minuten erst ermöglichen.
Die Aussichten auf eine Mehrheit für solche Reformen – laut NRA die verfassungswidrige Entwaffnung aufrechter Bürger – stehen fast so schlecht wie je. Die NRA hat seit dem Massaker von Newtown mehr als 100.000 neue Mitglieder geworben, auch wenn ihr Image um zehn Prozentpunkte abstürzte und zum ersten Mal mehr Ablehnung als Zustimmung aufweist.
Biden drohte offen mit einem Vorstoß Obamas durch eine “executive order”, also unter Ausschluss des Kongresses. Der Präsident könnte die strengere Strafverfolgung von Gesetzesbrechern befehlen, die falsche Angaben über sich machen oder für Unbefugte Waffen erwerben. Viel mehr als symbolischen Zorn vermag er nicht zu bieten.
Biden stärkt Obama den Rücken
In Joe Biden hat Barack Obama einen, der die Tricks des Kongresses seit Jahrzehnten beherrscht. Biden gibt sich jovial, bürgernah, sein breites Grinsen und sein ungestümes, unbedachte Sprüche förderndes Temperament machen es leicht, ihn zu unterschätzen. Doch Biden war es, der mit einem imponierenden Auftritt bei seiner TV-Debatte gegen Paul Ryan den schwer angeschlagenen Barack Obama wieder aufrichtete und den Demokraten neue Hoffnung gab. Biden war es, der den (lausigen) Kompromiss zur Vermeidung der “Fiskalklippe” aushandelte.
Hass beherrscht Bidens und Obamas Feinde. Der Schusswaffennarr Alex Jones spricht für Hunderttausende, wenn er schwadroniert, Hitler, Stalin et aliis hätten ihre Gegner erst entwaffnet und dann ermordet. Jones grinsend grüßender Hitler kursiert im Internet. Bildzeile: “Wer für Waffenkontrolle ist, soll die rechte Hand heben.”
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